Politische Macht und der Geist, der alle Europäer bindet
Die jüngsten Ereignisse im Kontext der Krise der europäischen Währung, des Euro, erwecken ab und zu den Eindruck, als wohne einer monetären Eigenschaft eine metaphysische Kraft inne. Die von José Ortega y Gasset berufene kulturelle Dimension beschwört den Geist, der als Idee Europa alle Menschen dieses regionalen Raumes gleichsam kultur-genetisch aneinander kettet. Jetzt zeigt aber das offenbar schwächste Glied dieser Kette auf dem Felde der wirtschaftspolitischen Realpolitik eine andere Bezugsgröße für Gemeinschaftsgefühl auf, die, wie es scheint, universell schickslalsmächtige Kräfte besitzt: Das Geld, der Euro. Das ökonomische Potential eines europäischen Staatengliedes, seine ökonomisch-strukturellen Bedingungen sind offenbar auf Gedeih und Verderb mit allen anderen Gliedern dieses Gebildes Europa wechselseitig verschränkt und vermögen im Problemfalle irgendwie über Sein oder Nichtsein aller entscheiden. Von einem kulturellen Band, das alle Menschen in Europa auf einem geistigen Niveau mit gleichen Überzeugungen, Werthaltungen und Traditionen beispielsweise verbindet ist in diesen Tagen nur selten die Rede. Es scheint mir sinnvoll zu sein, aus dieser Perspektive die Idee Europa im Verständnis von Ortega einmal näher auf ihr Substrat hin zu untersuchen.
Wertegemeinschaft oder nur Wirtschaftsgemeinschaft?
Europa in der heutigen politischen, insbesondere in seiner währungs- und wirtschaftspolitischen Gestalt ist offenbar noch weit davon entfernt, sein Selbstverständnis im Gleichklang mit Ortegas Idee eines geistigen bzw. kulturellen Gebildes im Sinne der vereinigten Staaten von Europa zu finden. Ein kollektives Gefühl von kultureller Einheit verschwindet fast hinter der Priorität volkswirtschaftlicher und währungspolitischer, ökologischer und machtpolitischer Präferenz . Eine kulturelle Heterogenität deutet sich im Angesichte regional divergierender Werthaltungen und Grundüberzeugungen an, die oft (z.B. Polen) unüberbrückbar scheinende Grenzen aufzeigt. Psychologisch, soziologisch, religiös und moralisch voneinander stark abweichende Werthaltungen in einzelnen Staaten Europas lassen deutlich werden, daß Oswald Spenglers kulturpessimistische Sichtweise vom Untergang des Abendlandes in vielen Teilen Europas Wirklichkeit geworden ist. Das Abendland als Kulturbegriff, wie ihn Spengler im Blick hatte, einen Begriff mit klaren, deutlichen und unverwechselbaren Designaten (vgl. Chr. Wolf) gibt es in dieser Gestalt nicht mehr. Deshalb ist die Rede vom Abendland bzw. von der europäisch-abendländischen Kultur im allgemeinen Sprachgebrauch einer neuen, semantisch genaueren Vokabel gewichen, die mit westliche Kultur oder kurzerhand: Der Westen eine Bezugsgröße signalisiert, deren räumliche Ausdehnung die USA und außereuropäische Räume (Israel, Japan, Neuseeland) mit erfasst.
Genau diese Entwicklung hatte Ortega vorausgesehen, wenn er am Ende seines EUROPAVORTRAGES (München 1953) auf die grundsätzliche Unabgeschlossenheit der europäosch-abendländischen Kultur hinweist. Spenglers Krisenscenario wird von Ortega eher als Chance bewertet, weil die europäische Kultur “keine verschlossene, auf immer kristallisierte Kultur ist.” Das Abendland als Konglomerat aus Antike, Christentum und Germanentum hat ja gerade mit seiner Entstehung eine exorbitant integrative Kraft gezeigt. Als eine im evolutiven Prozeß begriffene, offene Kultur ist sie nicht versteinert: “Ihr Ruhm und ihre Kraft bestehen darin, daß sie stets bereit ist, über das, was sie war, hinauszugreifen, immer über sich selbst hinauszuwachsen. Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung.” Aus diesem Aspekt könnten multikulturelle Erscheinungen in Europa weniger als Menetekel von Gefahr als ein periodisch auftretendes neues Element wahrgenommen werden, das in einem gewissermaßen metabolischen Prozeß der westlichen Kultur zu kulturevolutiven Zielen dient. Dem antiken Geist der Römer waren die Germanen und ihre kulturellen Usancen bekanntlich auch nicht gerade geheuer!
Das anonyme Ungeheuer Spekulation
Das Netzwerk orbitaler Interdependenz der Finanz- und Wirtschaftssysteme ist in der Aktualität unserer Tage mehr als aufdringlich. Gleichzeitig beklagen wir das Übel offenbar nicht mitgewachsener Normen, die ehedem als unabdingbares Regelsystem zwischen Verantwortung und den klassischen Tugenden von Treue (Vertragstreue), Glaubwürdigkeit, Wahrheit, Sozialität und Moralität das Substrat für kollektives Vertrauen in politische und wirtschaftliche Eliten schufen. Nicht etwa, daß zuvor niemand im Olymp von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fehlerhaft, ja verbrecherisch gehandelt hätte! Spätestens aber im Offenbarwerden der Fehlleistungen kam man sich im Gegensatz zu heute schlecht vor und zog die Konsequenzen. Also werden sich Gesellschaft und Politik aus Selbstschutz der Einsicht beugen müssen, die schon Arthur Schopenhauer über die Abwesenheit freiwilliger Selbstdisziplinierung und Anerkennung moralischer Prinzipien als Ausdruck der normativen Gestalt Moral verzweifelt ausrufen ließ: Befohlen muss sie sein! Kann Moral aber überhaupt befohlen werden ohne ihren Charakter Moral zu verlieren? Wenn machtstrukturiertes Handeln mit kollektiven Folgen für die Gesellschaft berechenbar sein soll, dann ist der freie Wille zur richtigen Wahl von Alternativen bei den Akteuren eine Entscheidungsinstanz, die offenbar der Kontrolle nicht allein des eigenen Gehirns in subjektiver Selbstherrlichkeit, einem Mißverständnis von Freiheit , sondern außerdem der Kontrolle durch die Gesellschaft bedarf. Das bedeutet nichts anderes, als ein sozialregulatives Steuerungsinstrument für Märkte und ihre Macher in Gesetzesform zu bringen, die Moral sensu Schopenhauer befiehlt und Verletzungen folgenschwer für die Akteure sanktioniert. Denn offenbar ist der Mensch doch irgendwie im Reiche des Egoismus determiniert, wenn er machen kann, was er will, und darin, wie es sich zeigt, sehr oft nicht tut, was er soll. Auf der Grundlage auferlegten Normenzwanges ( z.B. Gesetze) in Absicht der Vermeidung sozialer Ächtung handeln zwar die Akteure noch immer nicht moralisch im Sinne von Immanuel Kant, wenigstens aber doch moralanalog.
Die Gier beispielsweise kommt in der Natur nur höchst selten vor. Ihr Charakteristikum ist die Unersättlichkeit. Offenbar zeigt sich mit ihr eine Mutation zum kulturellen Elementartrieb, einer Verschränkung von Triebstruktur und Realitätsprinzip. Auch der demokratische Staat hat Erfahrung im Umgang mit Triebtätern. Die Legislative hätte nur die Antezedenzen (Kriterien) zu erweitern, um im Explanandum den Bürger wieder ruhig schlafen zu lassen.
Ortegas Europaidee im Lichte historischer Konzepte
Schon Victor Hugo hat 1849 bei dem internationalen Friedenskongreß in Paris von den vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Seit dem 17. Jahrhundert war Europa nicht nur ein geographischer, kultureller und religiöser, sondern auch ein politischer und geistesgeschichtlicher Begriff gewesen. Das Völkerrechtsdenken wurde von dem jus publicum Europäum geprägt. Zahlreiche Versuche wurden unternomen, Europa auch politisch zu organisieren. Zwar hatte es über Jahrhunderte in Europas Mitte fast in jeder Generation wenigstens einen Krieg gegeben. Die europäisch-abendländische christliche Kultur aber wurde hiervon kaum beeinträchtigt. Politisch in den Blick genommen blieb Bismarcks Welt das Europa der fünf Großmächte, wie es 1815 auf dem Wiener Kongreß neu etabliert worden war. Der erste Weltkrieg löschte allerdings die hergebrachten Vorstellungen von Alt-Europa weitgehend aus. Oswald Spenglers Kulturpessimismus in seinem Werk: Der Untergang des Abendlandes erfuhr nicht zuletzt deshalb eine exorbitante Beachtung. In Deutschland war dieses epochale kulturdeskriptive OEuvre über fast zwei Jahrzehnte das am meisten gelesene Buch.
Europa regrediert zum geographischen Spielraum für Machtpolitik
Gegen die Tendenz, Europa nur noch im Sinne eines geographischen Begriffes aufzufassen, regte sich zunehmend Widerstand. Der drohende Untergang des Projektes eines kulturellen und politischen Europas rief Aktivitäten in der deutschen (Gustav Stresemann) und französischen (Aristide Briand) Politik wach. Briands Europaplan von 1930 fand in Deutschland positive Aufnahme, weil hiermit vor allem die verhärteten Nachkriegsfronten aufgeweicht werden konnten. Bis heute verdienen deshalb die Genfer Bemühungen in europolitischer Absicht zwischen 1925 und 1930 allgemein hohen Respekt. Adolf Hitler nutzte den Geist eines freien und von Humanität, Liberalität bzw. Unabhängigkeit seiner Mitgliedsstaaten geprägten Denkens für seine NS-Ideologie aus. In Hitlers berühmter Friedensrede vom 17. Mai 1933 wird das Projekt einer ” Neugliederung und Neuordnung der europäischen Staaten” begrüßt . Diese strukturelle politische Regelung sei 1919 versäumt worden, meinte Adolf Hitler. Deutschland sei aber jetzt bereit, an dieser Aufgabe mitzuwirken. Wie das geschah bedarf des hohen und allgemeinen Bekanntsheitsgrades wegen hier keiner Erwähnung. Nicht ein vereinigtes Europa im Zusammenschluß gleichberechtigter Staaten bzw. Nationen schwebte Hitler vor, sondern die Gewinnung von Lebensraum für die germanische Rasse. Die Grundlinien der NS-Ideologie wiesen also nicht auf Europa, sondern auf die Ausgestaltung und Erweiterung des Deutschen Reiches zu einem Großdeutschen und später Germanischen Reich. Dieses Gebilde hatte von Anfang an nichts mit der abendländischen Europatradition zu tun. Seit seiner Gründung trat es vielmehr als der hybride und attavistische Versuch in Erscheinung, das Prinzip von Rasse und Raum im Sinne eines rücksichtslosen Sozialdarwinismus Europa überzustülpen. Europa war demgemäß für die Nationalsozialisten immer und tatsächlich bzw. im eigentlichen Sinne des Wortes nur ein geographischer Begriff.
Kulturraum Europa
José Ortega y Gasset setzte diesem geographischen, machtpolitischen und ökonomischen Europabegriff die Idee des Kulturraumes Europa entgegen. In den Horizonten seines auf Einheit in Freiheit projektierten europäischen Denkens bildete ein alles und alle umgreifendes kulturelles Band bei aller Heterogenität von Brauchtum und Sitte der Teilnehmer die zentrale Bezugsgröße. Liberalität und ein moderner neuer Humanismus, ein offenes Kultursystem, das eine kulturevolutive Weiterentwicklung der europäisch-abendländischen Kultur nicht nur gestattete, sondern mit Verve auch forderte sind einige der zentralen Strategien seiner Vision eines neuen Europas, das, politisch gewichtet, nach Vorstellung Ortegas in die vereinigten Staaten von Europa münden sollte.
In seinem Europavortrag von 1953 prophezeit Ortega am Ende, daß auf den auch geistigen Schutthalden der damals , vor 60 Jahren, noch aktuell verspürten “Katastrophen unter Kummer, Schmerzen und Not eine neue Gestalt menschlichen Daseins im Entstehen begriffen ist.” Spekulieren müßte man allerdings, so scheint es, worin denn überhaupt die ”neue Gestalt menschlichen Daseins” bestehen soll ? Will man Ortegas Vorstellung nicht der subjektiven Beliebigkeit einer vielleicht fehlgedeuteten Spekulation anvertrauen, dann könnte in hermeneutischer Absicht das Substrat des philosophischen Denkens Ortegas ein zuverlässiges Interpretationskonstrukt anbieten. Die insulative Abschottung der einzelnen Nationen im Rückzug auf ihre Bräuche, Sitten und regionalen Werthaltungen wird im Bewußtsein einer europäischen Kultur überhaupt durch deren hohe Anziehungskraft dazu führen, so meint Ortega,daß alle Teilnehmer gezwungen sind, ” sich mit Begeisterung den allgemeinen europäischen Lebensformen anzuschließen.” Die frühere nationale “Sondermanier, Mensch zu sein,” löst sich in einer neuen Gestalt menschlichen Daseins zu höheren Formen der Existenz auf. Ortega erblickt in diesen vor allem eine Entwicklung europäischer Lebensformen zu einer neuen und modernen Art des Humanimus, der antiegoistisch tolerant auftritt, Neidgesellschaften paralysiert, ein europäisches Wir-Gefühl etabliert und eine freie Gesellschaft begründet, die für ihre Individuen einen gerechten Ausgleich von Ressourcen, materieller und ideeller (Bildung) Art sichert sowie im Rahmen ökonomischer und politischer Möglichkeiten jedem Leben in Würdigung seiner “vitalen Vernunft” die Chance bietet, unter der Aufgabe einer Sinngestalt der conditio humana ihrer Natur gemäß Ausdruck zu verleihen.
Die aktuelle Lage Kultureuropas
Wir Heutigen haben hiervon schon einen hohen Anteil in der europolitischen Wirklichkeit umgesetzt. Der europäische Gerichtshof, das europäische Parlament, europäische Rechtsnormen, die alle Mitgliedsstaaten binden, der Euro als umgreifende Währung in Europa, Beseitigung der Grenzen, angemessene und möglichst (versuchte) gerechte Verteilung von Ressourcen, loyale Hilfe im Sinne einer Notgemeinschaft (vgl. Griechenland), das alles sind Fortschritte, die zwar in pragmatischer Wirkung in Erscheinung treten, aber nicht ohne die kulturelle Einheit entsprechned der Europaidee Ortegas zu denken wären. Nicht etwa die PISA-Studie selbst, aber unsere Reaktion darauf hat gezeigt, wie dicht wir in Europa in unseren geistigen Bezugshorizonten zusammen gewachsen sind. Einzig eine konsistente Philosophie von den Grundlagen Europas in pragmatischer und theoretischer Absicht wäre noch zu leisten, um das großrahmige Denken Ortegas zum Abschluß zu bringen. Eine Philosophie, die Ideologien vermeidet und ein europäisches Selbstverständnis begründet, mit dem sich jeder identifizieren kann. Das bisher bloß gefühlte europäische Kulturbewußtsein bedarf der Definitionen seiner Parameter. Die UNESCO hat mit der Formulierung eines Kulturbegriffs einen bislang ersten, wenngleich auch holprigen Versuch dazu unternommen. Triebstruktur und Realitätsprinzip in eins rühren, das lässt noch keinen konsistenten Kulturbegriff erwarten.
Maria Wilderich von Tahlheim