Zu Ortegas Abhandlungen: Über die Liebe
Im Lichte aktueller Neurowissenschaften und Psychologie
Neueres Wissen aus Hirnforschung, von den Neurowissenschaften überhaupt, von Hormonforschung und Persönlichkeitspsychologie lässt uns heute die über lange Zeit undeutlich und verborgen verlaufenden Strategien einer Wechslwirkung zwischen dem emotionalen und “mentalen” Kortex bzw. dem funktionalen Weg von Empathie bis hin zum sogenannten Gedanken lesen besser verstehen. Die Spiegelneuronen scheinen eine Schlüsselrolle bei alledem auf dem Weg zu einem Interpretationskonstrukt einzunehmen. Das eigene Ich in einem anderen Menschen diente als Spekulationsobjekt in den Intersubjektivitätstheorien der Philosophie. Edmund Husserl entwickelte eine beeindruckende Theorie der Intersubjektivität in den Cartesianischen Meditationen bis zum Transzendentalen EGO.
Husserls Reduktionsmodell beeinflusste José Ortega y Gasset ebenso wie ähnliche, tief in das Unbewusste eindringende Sichtweisen und spekulative Bewertungen zum Seelengrund nach dem Konzep seines Freundes Max Scheler. Ortegas Grundannahmen zeigen ein erstaunliches “Feeling” für die hier thematischen Anlagen der menschlichen Natur, für die konkreten Aspekte der Conditio humana, wie sie als Objekte dieser Abhandlung in der Sicht stehen. Gewiß, Ortega konnte vor fast hundert Jahren keine empirisch gesicherte klare Vorstellung von dem haben, was die Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren und ähnlichen Untersuchungsmethoden zur Determiniertheit des Menschen versus Freiheit später erforscht und erkannt hat. Es mag dem System der Lebensphilosophie Ortegas verdankt sein, daß er mit philosophisch-anthropologischer Gewißheit Grundannahmen zur Natur der Natur des Menschen darbot als hätte er soeben an dem interdisziplinären Kongress von Philosophie, Psychologie, Naturwissenschaften und Rechtswissenschaft jüngst in Bielefeld teilgenommen. An Ortegas Abhandlung Über die Liebe von 1933 soll beispielhaft gezeigt werden, welche wissenschaftlich exakte Aktualität seine Axiome und Urteilssätze von damals im Lichte des heutigen Forschungswissens besitzen.
Determiniertheit der Liebeswahl ist Ausdruck unseres verborgenen Charakters
Wie Max Scheler unterscheidet José Ortega y Gasset den Geschlechtsinstinkt des Menschen, der gleichermaßen auch dem Tier eigen ist, von der Geschlechtsliebe, eine die Erotik und gesamte Sexualität des “normalen” Menschen bestimmende, kulturell angeeigneteVitalkraft. Diese kulturelle Form der Sexualität ist Gegenstand der zentralen Betrachtung Ortegas zum Thema Liebe, Liebeswahl und Erleben von Liebe. Der Höhepunkt sexueller Erfahrung im Erleben der Geschlechtsliebe, wie Ortega sie begreift, beruht auf dem Bewußtsein der Partner von absoluter wechselseitiger Durchdringung. Auf dem Niveau des kultivierten Menschen erleben sich die Akteure in Hingabe zur Selbstaufgabe mittels Einsfühlung , wie Max Scheler diese von Ortega erkannte Tendenz zur Verschmelzung treffend bezeichnet hat. Die Liebenden fühlen, daß sie sich aus ihrer Egozentrik lösen und ihre Iche ineinander verschmelzen, im Patner aufgehen, eine psychische Identität bilden. ” Der Zauber der Liebe beruht zum Teil auf ihrer poetischen Begabung: sie füllt die Welt ringsum mit Regenbogenglanz und schmückt sie mit Stickereien. Auf dem Gipfel des Liebesgeschehens gibt es Verklärungen wie auf dem Berge Tabor.”
Das Gegenteil ist der animalisch operative Geschlechtsinstinkt, der vor allem autoerotische Züge trägt: Die Partner erleben ihre Sexualität im Instrumentalisieren eines anderen Körpers. Praktisch nimmt eine Sexualisierung des Lebens auf solche Art oft sportliche Züge an. Die Pluralität des im Orgasmus erlebten rauschartigen Kicks entscheidet über den jeweiligen Liebeserfolg. Sexualität auf dieser Stufe ergreift wohl selten den Kern der Persönlichkeit und bedeutet gleichsam wegen der Zentrierung auf den physiologisch-hormonellen Prozeß bloß körperliche Bedürfnisbefriedigung, einen nur hömostatischen Effekt gleich dem Regulativ von Essen und Trinken. Deshalb reagieren Menschen mit dieser Sexualpraxis in der Wahrnehmung spezifischer Geschlechtsreize auch ähnlich wie der Hund auf die Wurst. Ortega bemüht sich angesichts der Instinkt-Kultur-Verschränkung im Menschen vor der Annahme zu warnen, Instinkte des Menschen seien quasi tierhomolog in der Welt: “ Gewiß erscheinen die Instinkte im Menschen fast immer an überinstinktive Regungen seelischer, ja geistiger Art gebunden.” Umgekehrt gibt es keine Liebe ohne Geschlechtsinstinkt!
Ortega erweist sich in der Definition und Wahrnehmung des Phänomens Liebe in der Gestalt von Sexualität als aufgeklärter Evolutionstheoretiher im Sinne von Darwin. Wir sind nach Ortegas Sichtweise bei der Liebeswahl nicht frei, wir haben keinen freien Willen, sondern aufgrund unserer Anlagen offenbart bzw. repräsentiert der Grundcharakter der Person das wahre Wesen unseres Seelengrundes. An dem von einem Mann bevorzugt gewählten weiblichen Typus kann man das Niveau seines Herzens ablesen, weil die Liebe auf die tiefesten Schichten der Person gerichtet ist. Sie offenbart also unsere verborgene Art. Bei alledem ist unser Wille nicht frei, in der Liebeswahl so oder anders zu entscheiden: Wir entscheiden automatisch und automatisch richtig oder falsch. Wir sind nicht Schöpfer unserer Akte, sondern nur Lenker emotionaler Impulse, die in uns aus dem Unbewußten aufsteigen und unsere Liebeswahl determinieren. Unbewußt, aber zielsicher entscheiden wir uns bei der Liebeswahl für eine ganz bestimmte Ausprägung des Menschlichen. Am Phänotypus unseres Wahlpartners ist der Kern unserer eigenen Person, aus der die Motive aufsteigen, ablesbar.
Wir können wissen, ob wir die richtige oder vielleicht eine falsche Wahl getroffen haben und wir können insoweit einen Selbsttest vornehmen. Der in seiner Liebeswahl unbeirrbar Liebende erträgt alle Laster, Leiden und Gebrechen seines Partners als handele es sich um seine eigenen Fehler und Schwächen. Die echte Liebe in der Qualität Geschlechtsliebe drängt, anders als die animalische Sexualität (Geschlechtsinstinkt), auf Ausschließlichkeit und Universalität des Liebesgefühls. In dieser Verfassung echter Liebe zeichnen sich Männer wie ebenso Frauen durch eine Unempfänglichkeit für Geschlechtsreize einer anderen Frau/Mann aus.Ist jemand, umgekehrt (!), Objekt einer solchen idealiter entflammten Liebe, die er nicht selbst empfindet, die ihn ziemlich kalt lässt, gerät er zur “Verzweiflung durch ihre unerträgliche Monotonie.” Die falsche Liebe verrät sich alsbald durch das dumpfe Gefühl des Widerstandes gegen unangenehm empfundene Eigenschaften des/der geliebtenPartners/Partnerin. Hier zeigt sich das Faktum eines häufig vorkommenden Wahlirrtums, der darin besteht, dass als Liebe gefühlt wurde, was vielleicht gesteigerte Sympathie oder Bewunderung ist, mit Liebe aber nichts zu tun hat.
Ortega bemerkt, der normale Mann liebe mehrere Male im Leben und wähle zwar immer eine andere Frau, im Kern aber immer denselben weiblichen Typus. Als Grund hierfür beruft Ortega verschiedene, in der Regel zwei oder drei Umwandlungen, die eine Persönlichkeit im Leben erfährt. Ebenso oft, so scheint es, sehnt sich der Mann nach Variation des Geschlechtspartners. Sein Ich ist nicht mehr mit dem der ersten Liebeswahl identisch.
Ich vermisse an dieser Stelle einen unabdingbaren Hinweis Ortegas auf die durch längerzeitige wahre Liebesform regelmäßig gebildete Kopula der Herzen, die im Wir-Gefühl sich zeigt. Das emotionale und kernhafte Auseinanderdriften der in Liebe verbundenen Persönlichkeiten ist ja nur dann Lebenswirklichkeit, wenn sich beide zuvor nicht aufeinander zu bewegt, miteinander gleichförmig weiter entwickelt haben usw. Ihre Verbindung vollzog sich individualistisch-gegenläufig und entfernte sich von dem Band zuvor gefühlter Einheit zur Tendenz egoistischer Vielheit, “Diversifikation”. Für die Geschlechtsliebe gilt demgemäß und offenbar nicht dasselbe Vorstellen in Raum und Zeit, das für den Geschlechtsinstinkt gilt: So etwas wie Brunftzeit mit entsprechenden Promisquitätsphasen. Das SiebenJahre-Modell der sinnlich-schönenCSU-Politikerin aus Fürth in Bayern hat offenbar Sexualität nur aus dem Aspekt von Trieberfüllung und Triebstärke in den Blick genommen, aber das, was wir regelmäßig in anderem Kontext mit der Bezugsgröße Menschenwürde in den Blick nehmen, unbeachtet gelassen. Dazu gehört eben die in Kants Sinne für Vernunftqualität maßgebliche Überzeitlichkeit. Daß die sexuelle Triebsphäre allen Liebesakten überhaupt immanent ist, daran darf auch mit Ortega kein Zweifel bestehen.
Vier weibliche Grundtypen der sexuellen Instinktsphäre
Vertreterinnen des rein sinnlichen Schlages überwiegend Trieb geleiteter Sexualität, die sich für den so genannten Frauentyp Mann, den schönen Mann sexugeneris, begeistern, sind nach Ortegas Wahrnehmung vier Frauentypen : Frauen mit stärker viriler Seele, Frauen, die in ihrer Entwicklung von Anfang an ein schrankenloses sexuelles Leben geführt haben, normale Frauen, die ein voll befriedigtes und intensives sexuelles Leben hinter sich haben ( weil die Frau sowieso Spätzünder im Reich der Selbständigkeit ihrer Sinne zu sein pflegt) und schließlich jene, die dank ihrer psychophysischen Konstitution als die Grandes Amoureuses zur Welt kommen. Die Männlichkeit der Frau sei, so Ortega, ein besonders attraktives Thema. Denn die Wollust, die bei der normalen Frau mangels kümmerlicher Phantasie wenig ausgeprägt zu sein pflegt, beherrscht den Mann oft in der Totalität seiner Persönlichkeit dank hochentwickelter Phantasie. Würde die Frau über eine vergleichbare Imaginationskraft verfügen, “ so hätte die Wollust längst den Planeten überflutet, und die Menschheit wäre verschwunden, in Wonne vergehend.” Die meisten Frauen aber sind im Ausdruck einer Norm bei der Liebeswahl nicht den vorstehend bezeichneten vier Typen zuzurechnen. Sie interessieren sich nicht für den besonders schönen Mann. Es sind nicht die Frauen, die sich in den männlichen Körper hypersexuell motiviert allein verlieben. Es ist die Weiblichkeit vom natürlich guten Schlage, die Frau, bei der die Sexualität als Geschlechtsliebe eine enge Kopplung von sexueller Lust einerseits und Herzensneigung, Zärtlichkeit andererseits bildet. Es ist jener weibliche Typus, den Goethe im Faust meint, wenn er sagt: Das ewig Weibliche zieht uns hinauf.
Liebe bevorzugt die Herrschaft des Mittelmäßigen
Besonders erfolgreiche Männer, gesellschaftliche Eliten, Genies sind nicht jene erotischen Gestalten, die eine Frau bevorzugt und liebt. Vielmehr verläuft der Prozeß, den Darwin im Tierreich mit Zuchtwahl in den Blick nimmt, auf kulturellem Feld als Liebeswahl, stellt Ortega fest. Der reiche Mann ist für die Frau ausgezeichnet, aber sie liebt ihn nicht als reichen Mann. Ebensowenig liebt die Frau geistvolle Männer. Sie trifft sich gern mit ihnen zum Dinner, zur Initimität wählt sie einen anderen: Die Frau hat sich niemals für geniale Männer begeistert.
Was folgt daraus, fragt Ortega erstaunt? “Das bedeutet vom Standpunkt der menschlichen Selektion, daß die Frau mit Ihrer Gefühlswahl nicht an der Vervollkommnung der Speziens mitarbeitet. (…) Wer weiß, ob diese Abneigung der Frau gegen das Beste nicht letzten Ende heilsam ist?” Mehr als eine Spekulation kann auch Ortega in seiner Schlußbetrachtung zum Thema über die Liebe nicht anbieten:
“… die allgemeine Tendenz der weiblichen Liebeswahl geht darauf aus, die Gattung innerhalb mittlerer Grenzen zu halten, eine Selektion im Sinne der Besten zu vermeiden und dafür zu sorgen, daß der Mensch niemals aufsteigt zum Übermenschen oder zum Luzifer .”
Partnersuche zwischen Neutronenfeuer, Hormonsteuerung und romantischer Liebeswahl
Mit dem Hypothalamus-Hypophysenvorderlappen-Regelkreis und dessen allgemeiner Hormone steuernden Funktion verband José Ortega y Gasset aus dem Aspekt von Wissenschaft sicher keine Vorstellung. Er argumentierte aber in seinen Abhandlungen über die Liebe mit Sichtweisen, die von der Hirnforschung empirisch erst lange Zeit nach Ortegas Tod in den Blick genommen wurden. Ortega perhorrizierte auf diese Weise mit erstaunlich sicherer Intuition philosophisch-anthropologisch basale Elemente der Conditio humana, die mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihm von den Neurowissenschaften als Großtaten einer Dechiffrierung der Natur der Natur des Menschen gefeiert werden. Die Berechtigung, dieses Urteil angemessen einschätzen zu können setzt,so scheint es, zum besseren Verständnis der Materie, zum Begreifen der relevanten Sphären des Gehirns, die im angegebenen Kontext sozusagen die Schauplätze der Akteure des operativen Vollzuges sind, ein Grundverständnis der organisch-basalen Bedingungen der Möglichkeit von Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Unbewußten notwendig voraus. So sind inzwischen Interaktionsmechanismen zwischen Neokortex und dem limbischen System, dem Ort von Emotionalität und dem phylogenetischen Erfahrungsspeicher als Steuerungselemente von der aktuellen Hirnforschung als überkontingent wirksam nachgewiesen. Sie führten bekanntlich jüngst zu dem Determinismusstreit zwischen Neurowissenschaften einerseits und Philosophie bzw. Teilen der Geisteswissenschaften und der Rechtswissenschaft (Das Problem der Schuld) andererseits.
Aus dem Aspekt von Emergenz:
Wir sind determiniert und trotzdem frei
Mit den spektakulär erscheinenden jüngsten Forschungsergebnissen aus der Neurowissenschaft wurden die von Philosophie und Psychologie, vor allem von Kants Epigonen über Jahrhunderte mit intellektullem Engagement ebenso wie mit Verve vertretenen Paradigmata Freiheit und die Schuldfähigkeit der Person in Frage gestellt. Zum Detail siehe Kategorie Politik/Gesellschaft auf unserer Website. Die Psychologie leistete zum Beispiel mit dem bekannten Libetexperiment, das inzwischen mehrfach von anderen Forschern mit demselben Ergebnis wiederholt wurde, einen Beitrag zum Zweifel an unserem bisherigen Selbstverständnis, zur unerschütterlich erscheinenden Selbstauslegung des durch Vernunft und folglich Autonomie bzw. Freiheit bestimmten Menschen.
Sind wir also Marionetten tieferer, älterer Schichten unseres Gehirns und liegt die Vernunft doch bloß nur wie Firnis über den Trieben? Moralität und Sozialität konnten Menschen nur, so scheint es, unter der Voraussetzung leisten, daß wir nicht bloß unseren Trieben gegenüber stehen, sie also im Zaume halten können, wenn wir das nur wollen, sondern wir haben uns auch durch unsere Freiheit, durch Autonomie unserer Vernunft von den Trieben unabhängig betrachtet. Diese von Kant als Basis der Menschenwürde verortete Fähigkeit haben wir als kategorialen Unterschied den Tieren voraus, die uns auf der Ebene des Verstandes nur graduell unterlegen sind wie Kant richtig annimmt. Mit Determiniertheit ist also auch Moralität generell in Frage gestellt: Denn nur unter der universell gegebenen Bedingung der Möglichkeit von Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung des Menschen (Autonomie) bin ich bereit und verpflichtet, mich moralisch und sozial zu verhalten, weil ich Moralverhalten aufgrund ihrer Autonomie auch von allen anderen Menschen verlangen kann. Wir haben also nach diesem Menschenbild gesamtgesellschaftlich eine wechselseitige Verantwortung füreinander und für die Existenz einer kulturell geprägten Gesellschaft.
Sexuelle Determinierung einer Triebverschränkung zwischen Freiheit und Instinkt
Die durch Hirnforschung nun neu etablierte starke Position der Annahme, der Mensch sei grundsätzlich im Denken und Handeln determiniert, rüttelt an den Grundfesten unserer Kultur bzw. unserer westlichen Gesellschaft. Wir werden sehen, was die so akademisch erscheinende Diskussion mit der Lebensweltlichkeit, mit dem praktischen Leben auf dem Feld der Liebe zu tun hat, wie José Ortega y Gasset diese, verteilt über funktionale Auffächerung der Sexualität in den Blick nimmt. Sexualität als Geschlechtsliebe ist in Ortegas Sinn mit Verschmelzung der Individuen und folglich auch mit dem Aspekt von Treue verbunden. Folge ich bloß dem tierischen Geschlechtsinstinkt, dann ist der Akt nichts anderes als ein Instrumentalisieren des Partners zur eigenen Triebentladung. Bin ich aber auf einer kulturell geprägten Stufe meiner Sexualität in der Lage, mittels Empathie mit meinem Parner idealiter zu verschmelzen, dann ist für Determiniertheit weder Raum noch Erklärungsbedarf. Nicht jeder Mensch ist in der Lage, Liebe und Leidenschaft, Lust und Trieberfüllung auf der beschriebenen Höhe mit emphatischem Impetus auf der Suche nach seinem Ich im Alter Ego, bewußt oder, wie Ortega dies annimmt, unbewußt zu erfahren. Ein soziales Wir-Gefühl ist etwas ganz anderes als das Wir-Gefühl der Liebenden im Gleichtakt ihrer Herzen und mentalen Prozesse.
Ortega y Gasset betrachtet die Verschränkung von Vernunft und Instinkt, die uns als Kulturwesen kennzeichnende Natur-Kultur-Verschränkung, im Lichte von Kants Zwei-Welten-Theorie : Uns bewegt generell “ein irrationales Leben, das in unser Bewußtsein mündet und der verborgenen Höhle, dem unsichtbaren Grunde, entstammt, der wir eigentlich sind. (…) Denn wir besitzen wohl Vernunft und Freiheit; aber beide Vermögen bilden nur eine dünne Haut über dem Volumen unseres Wesens, dessen Inneres weder vernünftig noch frei ist.” Sogar die Ideen, so mein Ortega, entstammen diesem Urgrund unserer Natur.
Die Sexualität hat viele Gesichter, sie ist eine facettenreiche Lebenskraft, die mit Liebe gepaart sein kann, oft aber auch rein triebgeleitet auf die Physis des Anderen ausgerichtet ist. Jugend und Alter, Pubertät und Reife spielen eine Rolle im ewigen Spiel des Eros. Schließlich sind wir freilich in einem beträchtlichen Teil unserer Persönlichkeit auch sexuell determiniert, wenn wir unsere Natur in den Blick nehmen. Wir können diese aber auch unabhängig erfahren in der Verschränkung zwischen Geist und Natur. Die Modi und das Erleben von Sexualität kennzeichnet also unsere Vitalpersönlichkeit und ist immer auch Ausdruck davon, welch ein Mensch einer ist.
Determiniertheit im Lichte von Emergenz
Was bedeutet Emergenz? Sie bezeichnet irreduzible, neue auftretende, unerwartet erscheinende Strukturen. Die höheren Seinsstufen zeigen unzurückführbar (irreduzibel) neu auftauchende, aus vorhandenen Strukturen hervortretende Qualitäten. Emergenz ist die Hauptthese der dialektischen Naturphilosophie z.B. bei Hegel, Schelling und anderen Philosophen. In der Morgenröte der Evolutionären Erkenntnistheorie (EE) versuchte Konrad Lorenz den Begriff Emergenz durch eigene Wortschöpfung zu umgehen, um zu erklären, wie der Geist in die Welt kam. Er wählte die Formulierung Fulguration. Diese Vorstellung von Lorenz ist intersubjektiv nicht übernommen worden und erscheint aus heutiger Sicht obsolet. Sie wird aber hier wegen der gelungenen, ausdrucksstarken Metapher erwähnt, um zu zeigen, wie hilflos mancher Denker bei dem Versuch war, das Unerklärbare zu erklären, ein Missing Link zu denken, wo es derartiges nicht gibt. Die Vorstellung von Emergenz allerdings setzt sich, wie es scheint, aktuell allmählich gegen das Diktat der Hirnforschung mit dem Paradigma Determiniertheit durch ( Michael Gazzaniga) und könnte die Sphäre von Freiheit und Verantwortlichkeit dem Determnismus abringen.
Die Forschungsergebnisse der Hirnforschung haben zu Recht Konjunktur und niemand sollte diesem neuen Wissen, das unserer Selbstauslegung einen exorbitanten Vorschub leistet, die anthropologische Relevanz absprechen. Vielleicht gelingt es diesem Zweig der Humanwissenschaft in Kürze, nach Art eines Selbstkorrektivs über das basale Objekt des Interesses hinauszublicken und in den Blick zu nehmen, was zwischen Gehirnen passiert! Denn Freiheit und Verantwortung bzw. Verantwortlichkeit finden sich im Raum zwischen den Gehirnen, in den Wechselwirkungen der Menschen untereinander: Wie wäre Kulturevolution denn sonst zu verstehen? Robert Laughlin, Nobelpreisträger Physik 1998 hat auf das Interpretationskonstrukt Emergenz schon früh hingewiesen und die Selbstorganisation der Natur erneut in den Blick gebracht:
Was wir hier sehen, ist eine neue Weltsicht, bei der das Ziel, die Natur durch Zerlegung in immer kleinere Teile verstehen zu wollen, durch das Ziel ersetzt wird, verstehen zu wollen, wie die Natur sich selbst organisiert.
José Ortega y Gasset nimmt ausdrücklich Bezug auf seinen Freund Max Scheler, der Sexualität im Lichte ihrer Janusköpfigkeit als Geschlechtsliebe und Geschlechtsinstinkt wahrnimmt. Auf diese Weise wird die tierische Triebhaftigkeit des Menschen von der höherstufigen kulturellen Liebesform getrennt, ohne die grundsätzliche Wechselwirkung beider Sphären im Menschen in Frage zu stellen. Scheler galt in der Philosophie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts als hoch beachtetes und intersubjektiv anerkanntes Multitalent auf sowohl empirischen wie theoretischen Feld. Er vertrat mit Lehrstuhl in Köln Psychologie, agierte als viel beachteter Journalist , lehrte Philosophie und fungierte als politischer Begleiter von Konrad Adenauer zu einer Zeit, als dieser in der Rolle des Oberbürgermeisters von Köln den frühen Nazis das Leben schwer machte. Scheler galt als Frauentyp und Intimkenner der weiblichen Seele. Er ließ sich nicht selten als begehrter Liebhaber in manche Kammer entführen und betrieb das Geschäft zwischen Erotik und Sexualität so ungemein engagiert, daß die Kölner Universität ihn nach mehreren erfolglosen Abmahnungen, seine Triebe im Zaume zu halten, kurzerhand hinauswarf.
Ebenso wie Max Schelers amoureuse Abenteuer fand seine philosophische Leistung exorbitante Beachtung. Aufsehen in den Geisteswissenschaften erregte Schelers Anthropologie: Die Stellung des Menschen im Kosmos, die 1928 gleichzeitig mit jener von Helmuth Plessner: Die Stufem des Organischen und der Mensch in den Buchhandlungen präsentiert wurde. Konrad Adenauer holte Scheler, der sich inzwischen zu einer süddeutschen Universität “verkrümelt” hatte wegen dessen herausragender Bedeutung für die Gesellschaft überhaupt und für seinen auch in der akademischen Philosophie unbestrittenen Ruf als Denker nach Köln zurück.
Ortega fühlte sich, wie er selbst bekundete, mit Max Scheler freundschaftlich und congenial verbunden. Er war ihm als Freund und mit seiner Philosophie, menschlich und geistig, weitaus näher, als das bisher bekannt und erkannt wurde. Dieser hier erfolgte Vorspann zu Scheler erscheint mir notwendig, um Ortegas Abhandlungen über die Liebe zu verstehen. Denn Schelers entsprechende Ausführungen zur Liebe bzw. Erotik und Sexualität überhaupt, dargeboten in seinem Werk: Wesen und Formen der Sympathie ( Bd. 7, München 1912) ziehen sich wie ein Roter Leitfaden teils als Korrektiv, teils als Orientierungsrahmen, so scheint es, durch die thematisch entsprechenden Abhandlungen über die Liebe bei Ortega. Und tatsächlich erklärt Ortega in diesem OEuvre auch, daß außer Scheler niemand die essentiellen Unterschiede von Geschlechtsinstinkt und Geschlechtsliebe bislang richtig erkannt habe.
Sexualität, Trieb und Gefühl: in der Gestalt der Liebe
zwischen Determiniertheit, Freiheit und Emergenz
Ortega macht zunächst darauf aufmerksam, daß das Wort Liebe in unserer Vorstellung eine vielgestaltige Gefühlsfauna abdeckt: Liebe zu Gott, zu einer Frau,Vaterlandsliebe, Mutter-und Kindesliebe,Nächstenliebe usw. Liebe als Gefühlsakt sei ungemein heterogen generiert.Er unterscheide sich von Gefühlszuständen wie Lust, Freude und Trauer.
Der hier vorherrschende zentrale Begriff ist die Liebeswahl, mit der sich Ortega psychologisch, anthropologisch und auch ontologisch beschäftigt. Sind Menschen bei der Auswahl ihrer Geschlechtspartner frei? Bin ich auf welche Weise auch immer determiniert im Vorziehen oder Zurückstellen meiner Präferenzen für einen Partner?Welcher Teufel reitet eigentlich den tollen Freier, den in jeglicher Hinsicht, so scheint es oft, begehrenswerten Mann, den so attraktiven Phänotypus, der in Beruf und Gesellschaft erfolgreich ist und dem, wie man sagt, die Frauen zufliegen: Welcher Teufel reitet diesen sinnlich-übersinnlichen Freier in Goethes Sinne oft, sich in ein Mauerblümchen zu verlieben? Irgendwie hat Ortega zur Lösung dieser Frage plaubsible Antworten zur Hand. Wir sind scheinbar frei in unserer Partnerwahl und dennoch, wie es das Leben zeigt, irgendwie determiniert. Jedenfalls wählen wir meistens nicht das, was uns in der Vorstellung vorschwebt, sondern etwas anderes.
Die Sexualität in der Gestalt der rein körperlichen Liebe, also der Geschlechtsinstinkt, wie er auch den Tieren eigen ist, begleitet alle Liebesformen: So gibt es keine Liebe ohne Geschlechtsinstinkt. Sexualität, praktisch in den Blick genommen, wird von Ortega demgemäß in unterschiedlichen Ausdrucksformen behandelt. Die Erotik ist auf der Ebene der Geschlechtsliebe anzutreffen, wobei der geschlechtliche Vitaltrieb gewissermaßen als Motor wahrgenommen wird. Denn, man spürt Begierde, ehe man die Situation oder die Person kennt, die sie befriedigt,so Ortega. Der Trieb bzw. Instinkt ist auf die Erhaltung der Art, die Liebe als Gespielin des Eros auf die Person gerichtet. Die Tendenz, seine Individualität in der des anderen aufzulösen und umgekehrt die des Gebiebten in seine eigene einzusaugen betrachtet Ortega als eine Verschmelzung der ICHE: Ich bin Du! Diesen mittels Einfühlung erreichbaren Zustand erfahren die Liebenden als Zustand der Volkommenheit ihrer Liebe.Er besteht darin, daß der Liebende in metaphysischem Sinn durchlässig wird und nur in der Verschmelzung mit der Geliebten, in einer Individualität zu zwei, Befriedigung findet. Max Scheler beschreibt genau dieses Ereignis als Prozeß, dessen Ziel die Partner durch Einsfühlung erreichen.