Aus Anlass der 17. Jahrestagung des FORUMS Lebendige Jagdkultur e.V. in Eisenach hat die Ortegagesellschaft einen Vortrag bzw. eine Abhandlung zum Thema
Naturereignis Jagd im Driften zwischen Kultur und Zivilisation
vorgelegt. Dieser Beitrag wird hier nachfolgend ungekürzt dargeboten.
Red. Anmerkung:
Die Deutsche Gesellschaft José Ortega y Gasset ist Mitglied zur Förderung von Jagdkultur als einer Subkultur der Europäisch-Abendländischen Leitkultur im Forum Lebendige Jagdkultur e.V., einem gemeinnützigen Verein. Die Gesellschaft unterstützt insbesondere mit kulturellen, näher hin mit geistigen Impulsen, die Ziele und Zwecke des FORUMS gemäß der Verfassung des Vereins.
Herausragendes Interesse der Ortegagesellschaft ist dabei, die Axiome und Grundgedanken von José Ortega y Gasset zur Jagd auf dem Feld der praktischen Jägerei umzusetzen. Die Bedingungen der Möglichkeit eines neuen Humanismus in Ortegas Sinn werden als Bedingungen der Möglichkeit eines Jägerethos kultivierter Prägung in die Sicht gebracht. Die Ortegagesellschaft unterstützt die Jagd als Ausdruck von Kulturgut gegen materialistische, ideologische und funktionalistisch, auf Nutzeffekte aus Eigentum an Grund und Boden gerichtete Interessen, die der natürlichen Einheit von Fauna und Flora zum alleinigen Vorteil wirtschaftlichen Nutzens und Gewinnmaximierung den Missbrauch von Macht gleichorientierter administrativer Ebenen (Politik, Legislative usw.) die Herrschaft übertragen haben. Der Jäger im Sinne Ortegas als kultivierter Naturnutzer mit phylogenetischem Bewusstsein ist die Zielgestalt, die zwischen Leidenschaft und Vernunft jagend konfligierende Interessen in der Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen bemüht ist. Die Verantwortung hierfür liegt bei den jägerischen Eliten in Verbänden und Organisationen. Deshalb ist das Naturereignis Jagd sowohl aus dem Aspekt von Kultur als auch aus dem der Zivilisation eine praktische und lebendige Aufgabe aller an der Sache beteiligten Bezugsgrößen: Jäger, Politik, Gesetzgebung, Verwaltung und jene, denen die natürlichen Ressourcen zur nachhaltigen Nutzung anvertraut sind (z.B. Forstverwaltungen).
Ich hoffe, Sie werden mir zustimmen: Die Veranstaltung des FORUMS, eine Organisation freiheitlich konservativ gesonnener Jägerinnen und Jäger, die sich als Statthalter lebendiger Jagdkultur berühmen, kann und darf hier und heute im Lichtschein der Wartburg nicht ohne Rückneigung auf jenes epochale Ereignis ihren Verlauf nehmen, das vor fast 200 Jahren die Geburtsstunde des deutschen Nationalgefühls einläutete. Damals erhoben junge Menschen aus ganz Deutschland mit flammendem Herzen, mit Mut und Entschlossenheit, Pioniere unserer heutigen Demokratie, den uns alle bindenden und verbindenden Ruf nach Einigkeit und Recht und Freiheit.
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Welch ein großartiges Fest war das im Oktober 1817, als 16 deutsche Universitäten Studentendelegationen aus ihrer Burschenschaft nach Eisenach zur Wartburg entsandten, um an dem epochalen Kongress, dem berühmten Wartburgfest, teilzunehmen. Burschenschaften nannte man erstmals 1791 die Gesamtheit der Studentenschaft einer Universität.
Welchen Anlaß hatten damals diese studentischen Revolutionäre im Geiste von Liberalität und Einheit zu diesem einzigartigen Ansprung? Was trieb so viele junge akademische Eliten quer durch deutsche Lande an? Welche Motive hatten ihre Herzen entflammt, ihren Geist mit einem revolutionären Impetus bewegt und welche mentale Verfassung hatte sie unter einer Idee versammelt?
An der Schwelle zum 19. Jahrhundert schlossen sich die Anhänger von F.L. Jahn, der Lichtgestalt der Turnerbewegung und als Turnvater Jahn in aller Munde sowie andere, von der Freiheitsidee begeisterte Studenten aus Lützhofs Freikorps in Jena zur 1. und nunmehr organisierten Burschenschaft zusammen. Ihre Farben: Schwarz, Rot und Gold wurden alsbald zu den deutschen Nationalfarben bis heute. Der damals als revolutionär empfundene studentische Ruf nach geistiger Freiheit und staatlicher Einigung Deutschlands wurde auf dem Wartburgfest zum Programm und Symbol für künftiges politisches Denken in unserem Lande. Getragen war diese Hochstimmung durch das Aufklärungspostulat von Immanuel Kant, sich seines Verstandes zu bedienen und von Bevormundung durch Kirche und staatliche Administrationen unabhängig zu machen.
Der Geist der Wartburg ist die Wiege des deutschen Einheitsbewußtseins
Hier in Eisenach auf der Wartburg stand die Wiege des späteren liberalen Geistes, dem wir verbunden mit dem Geist der oberitalienischen (christlich geprägten) Renaissance die Leitideen unseres Grundgesetzes verdanken. Hier keimte der freiheitliche Geist der Frankfurter Paulskirche auf und legte Zeugnis ab für die Staatsphilosophie von Immanuel Kant. Hier stand die Wiege des nationalen deutschen Einheitsgefühls.
Der Geist der Wartburg, die allgemeine Sehnsucht nach Einheit und Freiheit zum Frieden der Völker hatte die deutsche Seele ergriffen. Erstmals kam so etwas wie ein Nationalgefühl auf, das den Stolz und das Streben nach Harmonie in sich vereinte, wie abertausende 1989 in Leipzig dieses nationale Einheitsgefühl skandierten: Wir sind das Volk!
Höhepunkt dieser emphatisch-freiheitlichen Bewegung war kurze Zeit danach bekanntlich der Deputiertenkonkress, die Nationalversammlung 1848 in der Frankfurter Paulskirche. An dieser Veranstaltung nahmen mehr als 150 Burschenschaftler, ehemalige Akteure des Wartburgfestes, nunmehr als politische Gesandte anwesend, teil.
Präsident dieses ersten Kongresses in der Paulskirche war Heinrich von Gagern, ein leuchtendes Vorbild aus dem Geist der Wartburgidee. Auch sein Bruder, Maximilian von Gagern, Onkel des Jagdschriftstellers Friedrich von Gagern, war Deputierter in Frankfurt. Später wurde sein Enkel, der Jagdschriftsteller Friedrich von Gagern für viele Jäger ein Wegbereiter einer Jagdkultur, die wir inzwischen in ihren wesentlichen, von Gagern grundgelegten Zügen aus dem Aspekt des Waidwerks pflegen, praktizieren und zu erhalten trachten. Kultur ist die Bezähmung des Verstandes durch die Zügel der Vernunft. Die Vernunft ist, kurz gesagt, das moralische Handlungsprinzip in der Form des alle Menschen bindenden Sittengesetzes, oder, wie Immanuel Kant diesem Ausdruck verleiht: Es ist der kategorische Imperativ! Diese Instanz Gewissen trieb Gagern um, als er angesichts des Todes, den er immer neu über das Wildtier brachte, in Nachdenklichkeit verfiel.
Wie seine Vorfahren war er vor allem auch durch die kongeniale Nähe zum Familienfreund, zu der politischen Lichtgestalt des Freiherrn von Stein, durchdrungen von der Idee der Freiheit und Einheit deutscher Bürger im Kulturraum Europa. Schon als Autor von jagdthematischen Büchern ließ Gagern das kulturelle Band einer übersinnlichen Rückbindung an die Sinnfragen des Lebens erkennen, das ihn später in spirituellen Texten fesselte. Auf diese Weise strömte der Eisenacher Wartburggeist die Sehnsucht nach Harmonie und Freiheit auch über das Kulturgut Jagd in die Gesellschaft erster Basisdemokratien in Deutschland aus. Er verbindet uns Heutigen unaufgebbar mit den geistigen Vorbildern und liberalen Köpfen der Geburtsstunde deutschen Nationalbewusstseins, die den Namen von Gagern tragen.
Ob es wohl möglich sein kann, heute im April 2012 von dieser Stelle aus das Naturereignis Jagd mit dem Geist der Wartburg zu erfüllen?
Kann es gelingen, mit dieser mentalen Kraft quer durch deutsche Lande, quer durch alle Schichten und Naturnutzer, quer durch die ganze Gesellschaft einen machtvollen Ruf nach Harmonie und Einheit, nach Frieden und Freiheit in allen Interessenlagern auszusenden, damit die Jagd als sowohl Natur- wie auch Kulturgut zum Nutzen für Wild, Wald und Gewässer eine Ikone der sozialen Einheit zum Bewahren und Erleben der Natur sein könnte?
Nicht neue Jäger, neue Ideen braucht das Land! Ich glaube, wir vom FORUM LEBENDIGE JAGDKULTUR stehen unter dem Anspruch unserer Vereins eigenen Verfassung mit dem Mandat, kulturelle Kreativität zu leisten und Visionen, eben Ideen, einzubringen, die in fernen Horizonten zur Einheit in allen Lagern der Naturnutzer und Naturbewahrer den sozialen Frieden durch die Freiheit eines ideologiefreien Geistes zu vermitteln vermögen. Jagdkultur ist das, was ein Mensch durch seine Anlage und Sozialisation beim Eintritt in sein Jagdsein mitbringt und bei der Jagd umsetzt. Jagdkultur erweist sich so als eine höchst schillernde Gestalt aus einer Fülle von individuellen Prägungen jagender Persönlichkeiten wie Kultur überhaupt im Kontext der Gesellschaft sich nicht anders darbietet. Es bedarf demgemäß keiner Jagdkultur sui generis, die dem Individuum vielleicht aufgepfropft werden könnte. Es bedarf kultivierter Menschen, die Jagen und die kultiviert sind, bevor sie jagen. Wer Jäger wird, der hat sein kulturelles Marschgepäck bereits internalisiert- oder aber auch nicht. Je nachdem, welch ein Mensch einer ist.
Packen wir´s an: Mutig, schöpferisch, überzeugend und mit klaren Denkprofilen.
Beginnen wir dort, woher alles Leben seinen Ausgang nahm.
Beginnen wir mit dem Naturereignis Jagd und einem guten Verständnis seiner begrifflichen Konnotationen!
Ein Ereignis ist immer auch ein Prozeß, eine Spannung, ein Drama. Ereignisse der unbelebten Natur als Spannungskräfte der Materie kennen wir beispielsweise als Erdbeben, Überflutungen, Gewitter, Stürme, Vulkantätigkeit und ähnliche Ausdrucksformen von Urgewalten. Im Universum des Biotischen, in der belebten Natur, bestimmen Ereignisse im Sinne von Bewegungen alle natürlichen Prozesse von der Zellteilung über die Geburt bis zum Tod, von der Akkumulation anorganischer Elemente zu Lebewesen wie beispielsweise bei der Entstehung von Nacktschnecken bis zur Paralyse der Zellen zum Unstofflichen, zur Materie zurück, wenn Lebewesen sterben, enden, verenden, wie Martin Heidegger diesen Prozeß in SEINundZEIT benennt.
Das Leben selbst ist ein Drama, stellt José Ortega y Gasset fest. Es verläuft, wenn man Glück hat, wie die Evolution:
Es beginnt als ein körperliches und endet als ein geistiges Abenteuer. Die Jagd bzw. das naturale Jagdschema im Gehirn ist des Dramas Antriebssystem. Es ist quasi der Motor in allen Lebewesen und bildet das Struktursystem für alle Leben erhaltende und reproduktive Prozesse, für Selbst- und Arterhaltung.
JAGD ist ein UNIVERSALBEGRIFF weltweit
Professor Paul Müller hat auf meine Anregung hin im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung der Jagd in Stichproben weltweit und in unterschiedlichen Kulturräumen die Sprachanwendung der Vorstellung von Jagd untersuchen lassen. Alle Menschen von Japan bis Oslo, in Afrika und Amerika, Eskimos ebenso wie neuseeländische Aborigines, Asiaten und Südeuropäer, Araber, Inder und Australopygmäen haben dieselbe Vorstellung von Jagd im Sinne der ersten wissenschaftstauglichen Jagdtheorie von 2003 (Universität Trier).
Alle Menschen verbinden also die konkreten Konnotationen des Jagdbegriffs mit einer einheitlichen Vorstellung, wenn von Jagd die Rede ist. Jagd ist folglich ein Universalbegriff, der alle Felder des Lebens umgreift.
Die Jagd zeigt sich uns im Reich der Natur als ein energetisches Triebsystem, das in der Genstruktur der Zelle verborgen ist und bei Einzellern ebenso wie bei Menschen mittels Jagdschema Verhalten initiiert, des Jägers Handeln steuert und zum Ziel, zur Beute führt.
Und warum das alles? Wozu dient Jagd als dieser einzige und einzigartige unablässig und millionenfach gleichzeitig überall in der Biosphäre ablaufender Prozeß, der Leben sichert indem er Leben vernichtet?
Weil das Leben nach einem geheimnisvollen Plan eines Schöpfers, sagen die einen, nach den Gesetzen der Evolution, sagen die anderen, auf Selbtserhaltung und Arterhaltung angelegt ist. Die Jagd ist also das, was dem Leben seinen Bestand sichert und sie ist deshalb ein natürlicher Elementartrieb. Wir sind zum Leben, zum Lieben und Leiden durch Jagdvollzug in allen Horizonten des Lebens, im Makrokosmos Natur, geschaffen.
Wildjagd, ein Segment aus zwei sich überschneidenden Lebenskreisen
In diesem Beitrag will ich mich auf die Wildjagd beschränken. Sie tritt zu jeder Zeit in der Geschichte seit der Morgenröte der Menschheit als ein Ereignis in Erscheinung, das gewissermaßen der alleinige Beruf des frühen Menschen gewesen ist. Unsere Vorfahren waren einzig durch das tierische Jagdschema in ihren Aktivitäten, in ihrem gesamten Verhalten determiniert. Zwei Lebenskreise bilden bei der Jagd in der Natur ein gemeinsames Segment: Der des Jagdtieres und jener des Beutetieres. Die zoologische Hierarchie, wie José Ortega y Gasset diese Naturerscheinung bezeichnet, ist auf solche Art ineinander verkettet. Prädatoren sind instinktiv darauf gerichtet bzw. determiniert, das Beutetier zu töten. Dieses hat die genau gegenteilige Tendenz in seinen Genen verortet: Es will diesen Erfolg des Jägers verhindern.
Naturereignis Jagd bedeutet also das Spannungsfeld in der zoologischen Hierarchie. Der Jagdtrieb regelt die Rangordnung innerhalb der Spezies und bildet das Regulativ eines Machtsystems von oben nach unten, wie Ortega diesen natürlichen Funktionsmechanismus richtig erkennt. Alle Tiere besitzen diesen Trieb, den wir in der animalischen Lebenswelt mit Instinkt zu bezeichnen pflegen. Als kultureller Elementartrieb nehmen wir ihn seit der neolithischen Revolution bei dem Menschen in den Blick.
Damit sind wir an dem entscheidenden Punkt angelangt, an dem sich Kultur und Zivilisation im Spiegel der Natur der Natur des Menschen zu einem emergenten Profil verschränken.
Kultur beginnt dort, wo die Jagd nicht mehr allein Naturereignis wie bei Wölfen, Bären, Füchsen, Adlern oder Fledermäusen ist, sondern in der Form von Handeln das Tun eines Lebewesens bestimmt, dessen Aktionen einer Zurechnung fähig sind, wie Immanuel Kant mit Hinweis auf Verantwortung unsere Reflexionsmöglichkeit auf Handlungsfolgen in die Sicht bringt.
Dank faszinierender Erkenntnisse in den Neurowissenschaften wissen wir heute, dass der Geist im Prozeß von Emergenz in die Welt kam. Viele Forscher bewerten dieses Ergebnis als Endphase eines Mutationsprozesses.
Emergenz bedeutet: Aus früheren einfacheren und niederen biotischen Struktueren differeziert sich eine höhere, auf frühere Formen nicht mehr zurückführbare neue Qualität heraus. In diesem Falle handelt es sich um die Fähigkeit zu denken, auf ein Ich zu reflektieren, den Tod, die Endlichkeit des Lebens zu erkennen, Folgen von Handlungen voraussehen und bewerten zu können.
Es ist sehr zu bedauern, dass heute fast jedermann die Vokabel Verantwortung im Munde führt und hiervon oft absurde Vorstellungen besitzt. Selten weiß einer deutlich zu definieren, worum es sich dabei handelt. Der Philosoph Hans Jonas hat mit seinem Beitrag: Das Prinzip Verantwortung, einen Versuch unternommen, den Begriff Verantwortung mit klaren Konnotationen auszustatten. Frühere Vordenker der Jägerschaft aber haben ihn grundlegend falsch verstanden und mittels ihrer dilettantischen Denkfähigkeit dem Jäger mit der Behauptung, er trage Verantwortung bloß a la longe ein schlechtes Gewissen bereitet, nix sonst! Was er da trägt und wozu, den Gegenstand, die Richtung, das hat dem Jäger bis heute niemand konkret zu vermitteln vermocht.
Kultur und Zivilisation: ein kategorialer Unterschied?
Die Differentia spezifica zwischen Kultur und Zivilisation herauszuarbeiten und darzubieten erfordert sehr viel Aufwand an sprachdiagnostischer Differenzierung. Nobert Elias hat diesen Spagat höchst verdienstlich mit dem Beitrag: Der Prozeß der Zivilisation, Bände I und II, längst abschließend geleistet. Wir wollen versuchen, an Beispielen im Reich der Wildjagd Kultur und Zivilisation miteinander ins Verhältnis zu setzen.
Bei der Jagd findet Kultur dort statt, wo kultivierte Menschen jagen: So einfach ist das! Kultivierte Menschen jagen, indem sie ihr Tun unter den Anspruch einer selbstgesetzten oder gesetzlichen Normierung stellen (z.B. Waidgerechtigkeit, Normen der Tierschutz- und ökologischen Ethik, Vermeiden von Leid usw.). Sie reproduzieren ihr Erleben in Berichten (Jagdliteratur, Belletristik), in jagdthematischer Malerei und Skulpturen, in der Musik, in der Kunst allgemein.
Kultur hat es also mit geistigen und kognitiv vermittelten psychischen Prozessen zu tun, die im Falle der Jagd Naturereignisse zum Gegenstand haben.
Kultur fragt demgemäß danach, wie etwas geschieht.
Jedes kulturelle System entwickelt Einstellungen und Werte. Werte sind unbedingte Vorzugsregeln mit moralischer Qualität. Das Gute ist stets dem Schlechten vorzuziehen, das Richtige dem Falschen. Nur so kann das Prinzip Verantwortung überhaupt erst ein Fundament haben. Im Wort Verantwortung steckt der Begriff antworten. Worauf antwortet die Verantwortung?
Sie antwortet aufgrund ihres Wissens von der Präferenzordnung von Werten auf den Anruf des Gewissens. Ich kann nur etwas verantworten, wovon ich etwas weiß und mit Bezug auf das ich eine Werteeinschätzung fühlen bzw. erkennen kann.
Jagdaspiranten in Deutschland internalisieren im Durchlauf von Kursen an Jägerschulen einen Wertebezug, der über den Begriff der Waidgerechtigkeit realisiert wird.
Zur Zeit findet im Deutschen Waidwerk ein Umsturz der Werte statt, der zu anderen Formen jagdkultureller Normierungsqualität führen wird. Die im Westen traditionell gepflegten bürgerlichen Leitwerte richtigen Lebens wurden im Nachtrab der 68iger Revolution durch das Lustprinzip und die Idee des ungebundenen Lebens ersetzt. Dieses Modell einer neuen liberalistischen Lebensform hat auch die Sexualmoral früherer Prägung korrumpiert und gegen den alten Eros von lebenslanger Bindung und gemeinsamen Nachkommen inzwischen erfolgreich angelöckt.
Von solchen neuen libidinösen Freiheitswerten affiziert, werden auch die westliche Jagdmoral und, in ihrer Folge, die Jagdkultur beeinflusst. Die Tendenz der Paralyse einer gefestigten Werteordnung deutet sich unübersehbar an. Ökologisches und idealistisches Denken und Fühlen der Akteure bisheriger Prävention wird durch materialistisches Nutzungsdenken mit Gewinnmaximierung (Wald vor Wild) hinter der Maske von Ökosystemschutz zur Göttin Vernunft, die das Naturereignis Jagd zu einer zivilisatorischen Schimäre herabwürdigt.
Zivilisation fragt danach, womit, wodurch etwas geschieht.
Damit befinden wir uns auf dem Felde der Technik, die fast alle Jagdhandlungen begleitet. Alles, was mit Waffen, Fallen, Messern, Optik, Fahrzeugen, Hochsitzbau und mit der Anlage von Wildäsungsflächen zu tun hat, ist Objekt einer auf Jagd bezogenen Zivilisation.
Jäger als in der Regel einfache Menschen vom guten Schlage pflegen sich selten in den Olymp der Kultur zu bewegen. Deshalb befassen sie sich beispielsweise in Interaktionen über Jagdmedien besonders gern mit Waffenfragen, Ballistik, Hochsitzbau und Jagdtechniken. Ist Kultur selten einmal Objekt ihres Interesses, hantieren vermeintliche Spezialisten auf diesem Gebiete häufig mit mentalen Denkoperationen, die eher durch Mitleid als durch einen intersubjektiven geistigen Konsens Beachtung und Zustimmung finden.
Elegant formulierte, innovativ aufpolierte und weise wirken sollende Absurditäten beziehungsweise geschickt verbalisierte Trivialitäten eines dilettantischen Grüblers sind noch weit davon entfernt, so etwas wie Tiefsinn zu erzeugen.
Sie greifen daher auch nie über den geistigen Konsumbedarf bei Jägerinnen und Jägern hinaus. Geschieht das trotzdem einmal zufällig, dann werden jagdthematische Geistesblitze z.B. mit dem Thema einer vermeintlichen, aber immer unmöglichen Jagdethik in der gebildeten und akademischen Gesellschaft rücksichtsvoll der guten Absicht wegen belächelt.
Zivilisation im Lichte des Anspruchs einer höheren, einer gesamt gesellschaftlichen Ebene beinhaltet über das Feld von Techniken und Anwendungsformen hinaus die Vorstellung von anständigem Umgang miteinander, weil Kulturen und Kulturkreise nicht isoliert in der Verkehrsbeziehung der Weltgesellschaft dastehen.
Daraus resultieren sachlich allgemeingültige Werte des Umganges als jedem einleuchtender Mindeststandard für interkulturelle Koexistenz. Zivilisiertes Denken und Verhalten kann zwar im Ignorieren anderer Menschen, nicht aber in einer Menschenverachtung bestehen. Die Bezugsebene eines anständigen Umganges miteinander und ihr Anschubmotiv treffen wir in der Regel im Technologieaustausch an. Auf solche Art gelingt es Kulturen, sich als Teil einer Weltzivilisation in einem Mindestbestand wechselseitig zu respektieren. Wir nennen diese Fähigkeit oft Toleranz. Die Technik erweist sich häufig als basale Vermittlungsgestalt dieser geistigen Bezugsgröße mit moralischer Qualität.
Naturereignis Jagd zwischen Leidenschaft und Vernunft
Wir sehen nach alledem: Das Naturereignis Jagd driftet immer dann, wenn der moderne Mensch die Jagd auf Wild ausübt, zwischen Kultur und Zivilisation. Denn der Mensch bedarf der Technik, um Jagd betreiben zu können. Er bedarf der Kultur, um sich selbst zu beschränken und die Ausrottung von Arten zu verhindern, denn seine Technik, seine zivilisatorische Macht gestattet ihm diesen Destruktionstrieb ohne weiteres. Die Jagdmoral aber, das Ethos des Jägers, belässt dem Tier seinen Spielraum, innerhalb dem es die Chance behält, einer Ausrottung zu entgehen.
Schließlich gibt es auch eine unmittelbare Verschränkung von Kultur und Zivilisation in der Natur, im konkreten praktischen Jagdbetrieb. José Ortega y Gasset verortet die eigentliche Geburtsstunde von Kultur überhaupt in jener Zeit, als der Mensch zwischen sich und das Beutetier ein anderes Tier, den Hund bzw. den Greifvogel einfügte. In dieser Epoche setzte mit der genannten Jagdstrategie die Fähigkeit zum abstrakten Denken ein.
Nicht die frühen Felszeichnungen in Höhlen, nicht die Bearbeitung von Speeren und Steinen seien genuine Kulturleistungen, sondern eben dieser erste und einzigartige kognitive Akt der Indirektheit, der vermittelten Unmittelbarkeit wie Helmuth Plessner die Voraussetzung zu höheren Denkleistungen richtig erkennt.
Das „wie etwas geschieht“ verschmilzt in demselben einzigen Akt mit dem “ womit etwas geschieht“ zu einer einheitlichen Handlung. Zwischen dem Menschen und dem Hund bzw. Falken besteht immanente Interessengleichheit: Beide wollen Beute machen. Das Gewehr, die Falle oder andere Jagdinstrumente sind seelenlos, bloß körperlich, materienhaft, tot, sie wollen nichts, sie können nichts wollen, sie haben kein Antriebssystem, sie haben kein Jagdschema, sie sind bloß Zivilisation, nichts sonst.
Wenn aber die Kunst, die Kreativität aus Menschenhirn und Menschenseele sich am technischen Objekt gestaltend zu schaffen macht, etwa im Falle von Gravuren, Schaftverschneidungen und Schnitzereien, dann schleicht sich Kultur in Objekte der Zivilisation ein und legt sich wie geistige Firnis über tote Masse. Wie überall im Leben, so kommt es auch hier auf die Perspektive an: Der geistig souveräne, der höher entwickelte Jäger, jener mit einer Antenne für den geistigen Überbau über der Materie, wird eine mit ziselierten Gravuren usw. künstlerisch bearbeitete Waffe ehe als Kulturgut begreifen als ein Jäger, dessen Gehirn der Fähigkeit zur Abstraktion (Kant: Das Urteilsvermögen) entbehrt. Jägerinnen und Jäger, denen es eher um das Bumm und Um geht, die nur das Zweckmäßige des Gerätes im Blick haben (das Gewehr muß treffen!), werden eher als Zivilisations orientiert in den Blick zu nehmen sein.
Fazit: Kultur wird gefühlt, Zivilisation wird verstanden. Jagdkultur setzt nichtsdestotrotz das Tätigsein von zivilisierten Menschen voraus, weil Kultur und Zivilisation bloß je eine Seite derselben Münze sind. Damit gerät die Jagdkultur in das Blickfeld einer weltkulturellen Dimension, wie sie von Paul Müller für Jagdkultur immer schon gefordert worden ist.
Jagdkultur früherer Prävention als Erinnerungs- und Brauchtumskultur wird obsolet, lebt aber insulativ in regionalen Jägerherzen fort wie Folklore
oder wie der große Zapfenstreich.