ORTEGAS ANTHROPOLOGISCHES DENKEN
In den HORIZONTEN von DILTHEY und PLESSNER
Ortegas anthropologisches Denken kann einerseits nicht ohne die Lebensphilosophie vonWilhelm Dilthey, seinem Vor- und Leitbild für lange Jahre, verstanden werden. Andererseits blieb und bleibt die erkennende Nähe des späten Ortega zu Helmuth Plessners Anthropologie in den Stufen oft unbeachtet. Nur vermittels ihrer, so scheint evident zu sein, kann es gelingen, die anthropologischen Grundaussagen des spanischen Philosophen angemessen zu begreifen. Soweit der Einfluss Diltheys auf Ortega in der Sicht steht, werden nachfolgend einige aussagestarke denkthematische Ansätze und anthropologisch-philosohische Überzeugungen beziehungsweise die relevanten Interpretationskonstrukte Diltheys in den Blick genommen.
DILTHEY IM SPIEGEL DES HISTORISMUS
Der Mensch ist in der Zeit, weil er Leib ist. Die Zeiterfahrung ist mit der Lebenszeit des Menschen ganz elementar verbunden. Die Voraussetzung für das Verhältnis des Menschen zur Geschichte ist sein Verhältnis zur Zeit. Frühe Formen menschlichen Zeitverhältnisses zeigen sich im Einklang mit den Jahreszeiten (z.B. in der Antike). Zeitempfinden war an das Werden und Vergehen der den Menschen umgebenden organischen Natur gekoppelt. Mit Thukydides (460-400 ante) und seiner Beschreibung des Peloponnesischen Krieges begann ein geschichtliches Bewusstsein. Er schreibt, dass es vorher nichts Bemerkenswertes gegeben habe. Thomas Hobbes lieferte 1628 Übersetzungen der Texte des Thukydides. Für Nietzsche war T. „der echteste Grieche“. Aber erst in der Neuzeit (um 1700) wird der Kollektivsingular die Geschichte im Sinne einer Universalgeschichte eingeführt. Bei Hegel erfährt sie ihren Höhepunkt in einer Interpretation als Fortschrittsgeschichte. Er deutet sie, geleitet von einem vernünftigen Subjekt, dem absoluten Geist, als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Der Historismus verlässt die Vorstellung von Geschichte als einem kontinuierlichen Prozess und deutet jede Epoche aus sich heraus, nicht aber als Vorläufer einer nachfolgenden Epoche.
GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN
W. Dilthey bildet in diesem Kontext die später auch von Martin Heidegger übernommene Vorstellung von der Geschichtlichkeit des Menschen aus. Die damit verbundene These besagt, dass der Mensch nicht bloß ein geschichtliches Wesen ist, sondern sich selbst nur aus der Geschichte verstehen kann bzw. auf diese Weise zur angemessenen Selbstinterpretation gelangen muß. Der Zeitbegriff ist hierbei ein wesentliches Interpretationskonstrukt. Die Zeit ist die Gesamtheit aller Momente. Als solche kann Zeit nur aus der Perspektive eines Subjekts wahrgenommen werden. Im Rekurs auf W. Dilthey spricht M. Heidegger von einem Existential der Zeitlichkeit. Gemeint ist damit weit mehr als eine psychologische Befindlichkeit, weil des Menschen Existenz unentrinnbar durch die Zeit bestimmt ist. Als Phänomen des Menschlichen ist Zeitlichkeit im Sinne eines dem Menschen Vorgegebenen und eines Aufgegebenen (Ortega: Bogenschützenmetapher) ein dialektischer Zusammenhang.
LEBENSPHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE
Die mit W. Dilthey gegebene Frage lautet: Lässt sich eine antimetaphysische, geschichtliche Anthropologie am Leitfaden des Begriffs LEBEN entwickeln, die gleichwohl eine theoretische Verbindlichkeit und Objektivität für sich in Anspruch nehmen kann, wie sie für Dilthey vorbildhaft in Kants KRITIK der REINEN VERNUNFT existierte? Vorrangige Bedeutung beansprucht das Verhältnis von Leben und Geschichte. Dilthey definiert Leben aus dem Aspekt von Zusammenhang und Wechselwirkung:
Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefasst in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhanges von den wechselnden Zeiten und Orten.
Es handelt sich immer bloß um Menschen, nicht um Lebewesen überhaupt, wenn Dilthey von Leben spricht: „Ich gebrauche den Ausdruck Leben in den Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschenwelt.“ Weiterhin umgreift sein Lebensbegriff nicht Leben im biologischen, organischen Sinn, sondern es handelt sich um jenes Etwas im Menschen, das geistige Gebilde (etwa kulturelle Institutionen usw.) hervorbringt. Leben ist sensu Dilthey die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muss und Leben könne nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden, weil es selbst ein Irrationales ist. Konsequent wählt Dilthey für dieses Denken den Begriff LEBENSPHILOSOPHIE.
Das Leben bildet einen Zusammenhang. Das Wort “Zusammenhang” wird von Dilthey als zentraler Begriff verwendet. Dieser Begriff determiniert im Fortrücken der Zeit die Designate eines weiteren zentralen Begriffs, mit dem sich dann die “Vorstellung” Geschichte verbindet. Alle Phänomene, in denen sich der Mensch verkörpert, sind geschichtliche Phänomene. Deshalb urteilt Dilthey: Was der Mensch ist, das lehrt uns die Geschichte. Er setzt sich in seiner Auffassung, Vorstellung und Begründung von den Produkten der Menschenwelt, die er wie Hegel als objektiven Geist bezeichnet, durch ein dem Hegelschen Interpretationskonstrukt völlig entgegen gesetztes Verständnis ab:
Hegels Fehler, dass er die Stufen des Geistes immanent konstruiert, während sie aus dem Zusammenwirken dieses Momentes mit der historischen Lage hervorgehen.
Dilthey ist bemüht, immer wieder antimetaphysisch zu argumentieren, lässt aber in apodiktischer Gewissheit in seiner kurz vor seinem Tode (1910) verfassten Abhandlung: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, entgegen seiner Absicht deutlich seine Metaphysik des Lebens hervortreten. José Ortega y Gasset ist ihm insoweit in letzter Konsequenz nicht gefolgt.
GRENZREALISIERUNG und POSITIONALITÄT
ALS DAS MENSCH-SPEZIFISCHE CHARAKTERISTIKUM
Ortega bringt das Phänomen des Prozesshaften und die Vorstellung von Geschichtlichkeit in Anlehnung an Wilhelm Dilthey im EUROPAVORTRAG von 1953 so zum Ausdruck: Alles Menschliche, insofern es menschlich ist, ist geschichtlich, und das will sagen, beweglich.
Trotz seiner „Affinität“ zu Dilthey übernimmt Ortega dessen theoretisch-anthropologischen Ansatz nicht kritiklos und extrapoliert seine relevanten Sichtweisen auf das inzwischen intersubjektiv anerkannte Stufenkonzept von H. Plessner.
Beibehalten wird die Überzeugung: Wenn wir wissen wollen, was der Mensch ist, so muss er in der Vielfalt seiner geschichtlichen Erscheinungsweisen betrachtet werden. Relativierend fügt Dilthey hinzu: Der Typus Mensch zerschmilzt in der Geschichte. Was der Mensch aber übergeschichtlich ist, zerfließt uns nach Diltheys Sichtweise unter der Hand. Die hierfür maßgebliche Ursache ist seine Fixierung auf das Konstrukt der Geschichtlichkeit: „weil das, was wir am Menschen beobachten können, durch und durch geschichtlich ist“.
ORTEGAS ANTHROPOLOGISCHE DIFFERENZ ZU DILTHEY
Ortega folgt Dilthey in der offenbar zutreffenden Annahme, der Mensch müsse in der Fülle seiner Erscheinungsweisen betrachtet werden. Er übernimmt aber nicht das vorstehend angegebene skeptische Resultat Diltheys. Ursache dürfte die sich für Ortega unausweichlich ergebende denklogische Konsequenz sein, die Kants maßgeblichen Einfluß in der methodischen Problemlösung erkennt, weil wir vorher schon wissen müssen, was der Mensch ist, wenn wir die Geschichte als Geschichte des Menschen erzählen wollen. Denn das Faktum der geschichtlichen Erscheinungsweisen des Menschen macht die Frage nach seiner invarianten Struktur nicht überflüssig. Mit Kant fragt Ortega deshalb: Was liegt den Dingen voraus und zugrunde? Mit dieser Erkenntnis sind wir unversehens in der aktuellen Diskussion der Human- bzw. Neurowissenschaften: Freiheit versus Determiniertheit, angelangt.
Ortega schließt sich in seinen grundlegenden anthropologischen Sichtweisen jedoch H. Plessner (in den Stufen) an, wenn er den Menschen als Jäger aus dem Aspekt der „Morgenröte der Menschheit“ (Prólogo) wahrnimmt, das animalische Jagdschema ins Verhältnis zum Denkschema setzt (vgl. Nikolaus von Kues: De venatione sapientiae) und auf solche Weise Kulturanthropologie betreibt.
Günter R. Kühnle hat in einer textanalytischen Aufbereitung des jagdthematischen Essays von Ortega (Prólogo a un tratado de monteria, dt. Fassung 1953 bei DVA: Meditationen über die Jagd) das darin vermittelte, über Dilthey hinausgehende kulturanthropologische Verständnis der Selbstauslegung des Menschen aus dem Aspekt von Differenz und Identität (d.i. die Natur-Kultur-Verschränkung im Sinne von H. Plessner) unter Verwendung der ihm durch Ortegas Tochter, Soledad Ortega, erteilten hermeneutischen Leitlinien dezidiert behandelt. Wird unser Blick auch auf diesen Jagdessay Ortegas in angemessener Ernsthaftigkeit gerichtet, so lässt sich widerspruchsfrei begründen bzw. feststellen: Würde José Ortega y Gasset heute leben, er würde ein anthropologisches Konzept aus multidisziplinärer Synthese auf der Grundlage des Essays entwickeln. Es ist und bleibt nunmehr eine vornehme Aufgabe seiner Epigonen. Grundlage ist das Plessnersche Konzept einer Selbstauslegung des Menschen als einem Wesen der Kultur-Natur-Verschränkung. Auf diesem Felde ist Plessners Kritik am Humanismus aus der Sicht des Historismus von begleitendem Interesse. Die Geschichte der eigenen und der fremden Kulturen habe gezeigt, dass die Selbstauslegung des Menschen im Sinne einer Idee, was der Mensch sein solle, vom Menschen selbst geschichtlich und unter kulturellkontingenten Annahmen hervorgebracht worden sei, also keinen Anspruch auf allgemeine Geltung erheben könne. Die Erfahrung zeige,
dass die Selbstauffassung des Menschen als Selbst-Auffassung, als Mensch im Sinne einer (…) Idee, selbst ein Produkt seiner Geschichte bedeute, die Idee Mensch, Menschlichkeit von Menschen eroberte Konzeptionen sind, denen das Schicksal alles Geschaffenen bereitet ist, untergehen (…) zu können.
Ortega schließt sich, so scheint es, letztlich der naturphilosophisch begründeten Anthropologie von Helmuth Plessner an, der es gelingt, die Möglichkeit eines konkreten Zusammenhanges von Natur und Kultur, Natur und Geschichte, Natur und Geist deutlich zu machen und damit Diltheys Konzept erkenntnistheoretisch zu überholen.
S.Hl. Web-Redaktion