Dr. Rüdiger Safranski


Ach Europa!?

Meine Damen und Herren,

in seiner Europarede von 1953 erklärte Ortega y Gasset: Machten wir eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.

Machen wir doch einmal die Probe und überlegen, welche fundamentalen Ideen es denn sind, die in der europäischen Geschichte wurzeln und uns heute so selbstverständlich vorkommen, dass wir das Kostbare daran, das zutiefst Europäische auch, kaum bemerken.

Eine dieser Ideen ist der ausschließlich in der europäischen Tradition verwurzelte Gedanke des Individualismus. Was bedeutet diese Idee? Sie bedeutet, dass es nicht nur verschiedene Menschen gibt, was eine Banalität ist, sondern dass gerade diese Verschiedenheit etwas Gutes ist und daß es darauf ankommt, diese Verschiedenheiten zu begünstigen und zu entwickeln. Mit anderen Worten: der Sinn von Kultur, Staat und gesellschaftlichem Leben ist nicht das kollektive Gebilde als Selbstzweck, sondern die möglichst reiche und verschiedene Entwicklung der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt.  Es handelt sich also um das Prinzip des Schutzes und der Förderung des Individualismus. Das Ganze soll die Vielfalt des Einzelnen ermöglichen. Das ist wahrlich ein revolutionäres Prinzip, ganz im Gegensatz zu allen Versuchen, den Einzelnen dem Ganzen aufzuopfern, im Allgemeinen verschwinden zu lassen. Dagegen also das Prinzip Individualismus. Aus diesem Prinzip entspringen die meisten normativen Ideen, welche die aufgeklärte Moderne ausmachen: Meinungs- und Gewissensfreiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Prinzip bedeutet auch, daß der Einzelne mit seinen Rechten zur Not auch gegen die Familie oder andere Nahverhältnisse geschützt werden muss. Hier merkt man die epochale Zäsur: der europäische Individualismus bricht nämlich mit der Jahrtausende älteren Stammeskultur, und die damit verbundenen Konflikte sind nicht graue Vorgeschichte, sondern werden heute noch immer dann aktuell, wenn, wie jetzt gerade bei der großen Migration, Menschen aus tribalistischen Verhältnissen  in Gesellschaften des europäischen Individualismus heimisch zu werden versuchen. Individualismus heißt also: den Einzelnen zu schützen notfalls auch gegen den Nahverband  der Ehe oder der Familie oder des Verwandtschaftskreises, etwa bei Gewalt in der Ehe oder bei der Kindererziehung. Heutzutage müssen wir in unserem Lande zum Beispiel  die Freiheitsrechte des einzelnen muslimischen Menschen gegen  die womöglich unterdrückerische Praxis von Scharia-Gemeinden verteidigen. Der Multi-Kulti-Ansatz widerspricht schlicht und einfach dem Grundsatz von Individualrechten.

Dieses Individual-Prinzip, die hohe Wertschätzung der einzelnen Person, hat natürlich eine lange Vorgeschichte, die ich hier nicht erzählen will.  Antikes und  vor allem christliches Erbe spielt herein. Jedenfalls gilt dieses Prinzip des Individualismus nicht für alle Kulturen, für die arabische oder die chinesische zum Beispiel ist es längst nicht so bedeutsam.

Eine unverwechselbare Person werden, bedeutet: die eigene Freiheit (als Entwicklungsmöglichkeit) entdecken und Gebrauch davon machen. Aber in welchem Sinne, wozu?

Für den europäischen Individualismus ist es charakteristisch, daß die Bestimmung des ‚Wozu‘ jedem selbst überlassen bleibt. Kein Menschenbild ist vorgeschrieben, nur sozialverträglich soll es sein. Im Übrigen soll jeder nach seiner Facon selig werden können. Wenn auch kein spezielles  Menschenbild vorgeschrieben wird, so ist doch etwas Grundlegendes vorausgesetzt, nämlich dies,  daß der Mensch ein Wesen ist, das offene Spielräume der Selbstgestaltung besitzt. Diese Idee kam zum ersten Mal in der Renaissance auf, etwa bei Pico della Mirandola, der  sehr kühn erklärte, „daß wir das sind, was wir sein wollen“, freilich in den Grenzen der „natürlichen Schranken“, wie er hinzufügt. Der Blick auf die Schranken, dieser ausgefuchste europäische Realismus, ist ein weiterer Aspekt des guten europäischen Erbes.

Es wäre ja zu schön, wenn die Individuen friedlich nebeneinander und miteinander ihre Eigentümlichkeit entwickeln und ihren je eigenen Zwecken folgen. Aber so ist es nicht. Man müßte sehr lebensfremd sein, wenn man nicht das Entsetzliche sehen wollte, das sich Menschen antun können, wenn man also die Blutspur der menschlichen Geschichte, gerade auch in Europa, übersehen wollte. Wie läßt sich der hochgesinnte Individualismus realisieren angesichts der schlimmen Aspekte der menschlichen Realität? Woran übrigens in der christlichen Tradition immer erinnert wurde, weil der Mensch ja als von der Erbsünde verdorben angesehen wurde!

Das liberale Denken, das im 18. Jahrhundert in Europa aufkam, hat zu diesem dunklen Aspekt der menschlichen Realität eine originelle und sehr kühne Idee entwickelt, die sich so umreißen läßt: es mag ja sein, daß die Menschen nicht so gut und vernünftig sind, wie man es gerne hätte, sondern  eigensüchtig und triebhaft, daß sie also einer Lenkung bedürfen. Wie lenkt man, ohne die Freiheit zu ersticken? Antwort: man nutzt die Dynamik des Egoismus, aber bindet sie ein in eine Ordnung aus Konkurrenz und Wettbewerb. Für den Liberalismus hängt alles an der Wirkung des Wettbewerbs von divergenten Interessen, die sich wechselseitig begrenzen und im Wettbewerb sich gegenseitig zu Produktivität und schöpferischer Initiative anstacheln. Das gilt im liberalen Denken wohlgemerkt nicht nur fürs Ökonomische, sondern auch für  das Politische.

Dieser pfiffige Gedanke des Liberalismus ist europäisches Aufklärungserbe und findet sich beispielsweise bei Kant, der erklärte, der Mensch sei zwar aus krummem Holz, aber durch Konkurrenz und Wettbewerb sei Fortschritt möglich. Er erläutert das so: Wenn die Menschen so gutartig wären wie die Schafe, die sie weiden, würden sie nicht über das Niveau ihres Hausviehs hinausgekommen sein. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben… Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeit stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich (daraus)… heraus zu ziehen.

Mit anderen Worten: wie konkurrieren uns empor! Das ist Kants liberales Glaubensbekenntnis.  Tatsächlich: der altehrwürdige Liberalismus der europäischen Tradition denkt sich keinen neuen Menschen aus, er nimmt ihn so wie er ist – als krummes Holz und setzt auf die produktive  und zugleich zivilisierende Kraft von Wettbewerb und Konkurrenz.

Zur liberalen Tradition der Wettbewerbsidee gehört ein weiterer zutiefst europäischer Gedanke, den wir eigentlich gut zu kennen glauben, doch nur selten in seiner ganzen Reichweite und Tiefe erfassen: das Prinzip der Gewaltenteilung nämlich, das zum ersten Mal im 18.Jahrhundert von Montesquieu explizit formuliert wurde.

Es ist uns gut vertraut als die Teilung der Gewalten in Exekutive, Legislative, und Judikative. Wenn wir zur Zeit zum Beispiel hoffen, Trump möge mit seiner ‚neuen‘ Politik sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen, dann setzen wir unsere Hoffnung genau auf dieses System der Gewaltenteilung im amerikanischen System – ein europäisches Erbe.

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zu verstehen als eine Verhinderung des Durchregierens. Gewaltenteilung soll die Gefahren der Mehrheitsdemokratie ausbalancieren. Die Geschichte, beispielsweise der Französischen Revolution, beweist, daß eine Freiheitsbewegung, wenn sie an die Macht kommt, in Diktatur umschlagen kann, wenn sie nicht durch das Recht beschränkt wird. Durch Demokratie allein, durch die Herrschaft der Mehrheit also, ist die Freiheit noch nicht gesichert, denn Mehrheiten können tyrannisch werden, wie ja auch das Beispiel des Nationalsozialismus lehrt, der ja von einer Mehrheit getragen wurde. Die Entwicklung einer Demokratie zur Diktatur läuft über die Aufhebung der Gewaltenteilung.

Auch das Prinzip der Gewaltenteilung- sicherlich eine der genialsten Erfindungen im Politischen – geht davon aus, daß der Mensch ein krummes Holz ist, es steckt ein gesundes Mißtrauen darin. Da Macht immer mißbraucht werden kann, muß sie aufgeteilt werden,  im Prinzip ebenso wie zur Öffnung eines Tresors oder zur Auslösung eines Waffensystems mehrere Schlüssel, auf verschiedene Personen und Institutionen verteilt, erforderlich sind.  Unnachahmlich ist dieses der Gewaltenteilung zugrundeliegende produktive Mistrauen formuliert worden  von Madison, einem der europäisch geprägten Gründungsväter der amerikanischen Verfassung. Es heißt dort: Es mag ein Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur sein, daß solche Kniffe notwendig sein sollen, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt in Schranken zu halten. Wenn die Menschen Engel wären, wäre (solche Gewaltenteilung) nicht notwendig.

Gewaltenteilung knüpft an die Idee der Konkurrenz an, sie ist nichts anderes als geregelte Machtkonkurrenz, um zu verhindern, daß eine Macht ein Monopol erringt.

Diese Zusammenhänge sind uns bekannt; weniger bekannt ist, daß im Interesse der Freiheitsbewahrung dieses Prinzip der Gewaltenteilung Anwendung findet oder finden müsste  in anderen Bereichen.

Nehmen wir das Verhältnis von Ökonomie und Politik, also das Verhältnis zwischen der Macht des Marktes und der Macht der Politik.

Der Liberalismus, der sich allein auf den Ökonomismus des Marktes verengt, würde gegen sein eigenes Prinzip der Konkurrenz verstoßen. Man kann diese Konkurrenz und damit die freiheitsförderliche Machtbalance zerstören – entweder indem man die Politik oder die Ökonomie allmächtig werden läßt. Die Marxisten wollen den Markt abschaffen zugunsten der Alleinherrschaft der Politik, die Ökonomisten, die radikalen Wirtschaftsliberalen also,  wollen die Politik abschaffen zugunsten der Alleinherrschaft des Marktes. Beides ist ruinös. Das Desaster des realen Sozialismus ist bekannt.  Und was die ruinöse Wirkung der entfesselten Märkte betrifft, muss man nur an die große Wirtschaftskrise 1929 mit ihren katastrophalen politischen Folgen erinnern.  Auf dem Hintergrund dieser Fehlentwicklungen bemerkt man: Der moderne Sozialstaat, wie er in verschiedenen Ausprägungen in Europa besteht, ist ein Produkt dieser Gewaltenteilung zwischen Ökonomie und Politik.

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt der Gewaltenteilung ist die Trennung von Politik und Religion – als Lektion aus einer blutigen Geschichte der religiösen Bürgerkriege in Europa. Die europäische Trennung von Politik und Religion bedeutet ganz einfach: politische Entmachtung von Religion. Für den Ungläubigen, den Atheisten, ist diese Trennung eine Selbstverständlichkeit. Aber machen wir uns nichts vor: für den wirklich gläubigen Menschen ist es eigentlich eine Zumutung, die zivilen Gesetze als höherrangig zu akzeptieren als die Gebote, die ein vermeintlicher Gott oder ein Prophet oder eine sonstige heilige Schrift gegeben hat. Und doch: diese Zumutung muß der religiöse Mensch ertragen lernen. Unsere Rechtsordnung steht höher als zum Beispiel die Scharia. Zivilität  bindet Sakralität. Und weiter: Es gibt ja nicht nur die eine Religion, es gibt viele Religionen. In einem freiheitlichen Gemeinwesen  müssen die religiösen Überzeugungen, auch wenn sie sich noch sehr auf etwas vermeintlich Heiliges und Ausschließliches richten, es ertragen lernen, daß sie auf  offenem Markt als bloße ‘Meinungen’ oder ‘Gesinnungen’ wie alle anderen auch  gehandelt werden. Sie müssen es auch zum Beispiel ertragen, karikiert zu werden. Für manche religiös Überzeugten kann das allerdings eine Kränkung bedeuten, die aber in einem freiheitlichen Gemeinwesen unvermeidlich ist. Für die einen ist Mohammed der Prophet, für andere ist er, wie der große Aufklärer Voltaire gesagt hat, nichts anderes als ein Betrüger und Tyrann. Daß man wechselseitig diese diametral einander entgegengesetzten Perspektiven hinnehmen muß, gehört zu einer Kultur der Freiheit. Freilich gilt auch die Aufforderung zum Respekt und gesitteten Umgang, aber einen prinzipiellen Kränkungsschutz für religiöse Gemüter kann es in einer freien, aufgeklärten Gesellschaft nicht geben.

Diese Ideen des Individualismus, der Freiheit und der Gewaltenteilung ergeben zusammen schon ein gewaltiges kulturelles Erbe Europas, aktuell und wirksam bis auf den heutigen Tag. Wir leben daraus und können beobachten, wie sich dieses Erbe globalisiert und wie attraktiv es ist, weshalb es gegenwärtig auch zu der großen Völkerwanderung in Richtung Europa kommt.

Wir wissen also oder sollten es wissen, dass wir einen europäischen Schatz von Lebensformen haben, die es zu bewahren und zu verteidigen lohnt, aber es ist, nach meiner Überzeugung auch klar, dass dieses europäische Erbe sich am besten verwirklicht in den Formaten der einzelnen europäischen Nationen, die sich allerdings wechselseitig bei der Bewahrung und Weiterentwicklung dieses Schatzes unterstützen müssen. Eintracht in der produktiven Vielfalt.

Daraus folgt die unabdingbare Notwendigkeit, das Friedensprojekt Europa und eine förderliche Wirtschaftsgemeinschaft zu bewahren und zu entwickeln – es folgt daraus auch die Notwendigkeit gemeinsamer militärischer Anstrengungen, um den europäischen Freiheitsraum verteidigen zu können (Europa, besonders aber Deutschland muss in dieser Hinsicht erwachsen werden), es folgt daraus auch die Schaffung einer kontrollierte europäische Außengrenzen im Blick auf die Migrationslawinen der Zukunft,  es folgt daraus aber keinesfalls, dass Vereinigte Staaten von Europa, also ein einheitlicher europäischer Bundesstaat,  das sich daraus zwingend ergebende und deshalb anzustrebende  Ziel sein müsste.

Nur ein paar Gedanken dazu: zu einem europäischen Bundesstaat gehört ein europäisches Staatsvolk. Das gibt es aber nicht. Und dass es  das nicht gibt, hängt eben auch mit der europäische Geschichte zusammen, ist auch ein Erbe Europas. Ein explosives, ein gefährliches Erbe, denn die Geschichte zwischen den europäischen Nationen war ja, wie wir wissen, höchst kriegerisch. Zum Wunder Europas gehört deshalb auch die Zähmung und Zivilisierung der Nationen. In dem Maße aber, wie man es darauf anlegt, die Nationen zum Verschwinden zu bringen, würde man erst recht die alten Gespenster wachrufen, man würde erst recht die gefährlichen Gegenkräfte mobilisieren. Nein, was wir brauchen ist das Europa der  auf einer verbindlichen Wertegrundlage kooperierenden europäischen Nationalstaaten, ein Europa irgendwo zwischen dem Europa der Vaterländer und einem Superstaat, ein Europa des Subsidiaritätsprinzips, bei dem die nächst höhere Ebene nur die Aufgaben übernimmt, welche die Ebenen darunter nicht bewältigen können.

Die Formate der Nationen sind auch deshalb so bedeutsam,  weil Demokratie eher in den kleinen und mittleren Maßstäben zu verwirklichen ist.  Je größer das staatliche Gebilde, desto mehr wächst auch das Demokratiedefizit. Ein Bundesstaat Europa wäre wahrscheinlich weniger demokratisch als die meisten der jetzigen Nationalstaaten der EU. Sich über die real existierenden Nationalstaaten in Europa hinwegzusetzen, bedeutet stets eine Einbuße an Demokratie. Das zeigt sich ja auch an den fatalen Folgen der Einheitswährung, deren Konzipierung auf sträfliche Weise Volkswirtschaften mit Betriebswirtschaften verwechselt hat. Volkswirtschaften haben jeweils einen nationalen,  kulturellen verankerten Stil, den man nicht ohne Strafe gleichschalten darf. Wir sehen das am Beispiel Griechenlands. Die Rettungsaktionen ruinieren die Demokratie dieses Landes. Eine grausame Ironie, denn hier, in Athen, stand ja, wie wir wissen, die Wiege der europäischen Demokratie.

Was gegen den Großstaat Europa spricht sind gerade diese Traditionen, die ich benannt habe. Gewaltenteilung: es ist gut, dass die Macht zwischen Nationen aufgeteilt ist und sich nicht in einem Zentrum sammelt. Individualismus: es ist gut, dass der Individualismus sich auf der nächst höheren Ebene zeigen kann, nämlich bei der Vielfalt der Kulturen und Nationen. Europa ist eben nicht einfach ein homogener Raum, sondern eine Einheit des Heterogenen. Das muss verbunden werden, aber nicht zu eng, denn das kennt man aus den Familien: ist die Bindung zu eng, kommt es zum Streit, und irgendeiner hat dann immer das Gefühl, seine Freiheit verloren zu haben.

Kurzum: Vorsicht also gegenüber den Elefantenträumen der Großstaatsbefürworter. Sie entsprechen eben nicht dem Europa des Individualismus, der Freiheit, der Demokratie, der Pluralität, der Gewaltenteilung – was alles die Werte und das eigentlich Liebenswerte Europas ausmacht.

in seiner Europarede von 1953 erklärte Ortega y Gasset: Machten wir eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.

Machen wir doch einmal die Probe und überlegen, welche fundamentalen Ideen es denn sind, die in der europäischen Geschichte wurzeln und uns heute so selbstverständlich vorkommen, dass wir das Kostbare daran, das zutiefst Europäische auch, kaum bemerken.

Eine dieser Ideen ist der ausschließlich in der europäischen Tradition verwurzelte Gedanke des Individualismus. Was bedeutet diese Idee? Sie bedeutet, dass es nicht nur verschiedene Menschen gibt, was eine Banalität ist, sondern dass gerade diese Verschiedenheit etwas Gutes ist und daß es darauf ankommt, diese Verschiedenheiten zu begünstigen und zu entwickeln. Mit anderen Worten: der Sinn von Kultur, Staat und gesellschaftlichem Leben ist nicht das kollektive Gebilde als Selbstzweck, sondern die möglichst reiche und verschiedene Entwicklung der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt.  Es handelt sich also um das Prinzip des Schutzes und der Förderung des Individualismus. Das Ganze soll die Vielfalt des Einzelnen ermöglichen. Das ist wahrlich ein revolutionäres Prinzip, ganz im Gegensatz zu allen Versuchen, den Einzelnen dem Ganzen aufzuopfern, im Allgemeinen verschwinden zu lassen. Dagegen also das Prinzip Individualismus. Aus diesem Prinzip entspringen die meisten normativen Ideen, welche die aufgeklärte Moderne ausmachen: Meinungs- und Gewissensfreiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Prinzip bedeutet auch, daß der Einzelne mit seinen Rechten zur Not auch gegen die Familie oder andere Nahverhältnisse geschützt werden muss. Hier merkt man die epochale Zäsur: der europäische Individualismus bricht nämlich mit der Jahrtausende älteren Stammeskultur, und die damit verbundenen Konflikte sind nicht graue Vorgeschichte, sondern werden heute noch immer dann aktuell, wenn, wie jetzt gerade bei der großen Migration, Menschen aus tribalistischen Verhältnissen  in Gesellschaften des europäischen Individualismus heimisch zu werden versuchen. Individualismus heißt also: den Einzelnen zu schützen notfalls auch gegen den Nahverband  der Ehe oder der Familie oder des Verwandtschaftskreises, etwa bei Gewalt in der Ehe oder bei der Kindererziehung. Heutzutage müssen wir in unserem Lande zum Beispiel  die Freiheitsrechte des einzelnen muslimischen Menschen gegen  die womöglich unterdrückerische Praxis von Scharia-Gemeinden verteidigen. Der Multi-Kulti-Ansatz widerspricht schlicht und einfach dem Grundsatz von Individualrechten.

Dieses Individual-Prinzip, die hohe Wertschätzung der einzelnen Person, hat natürlich eine lange Vorgeschichte, die ich hier nicht erzählen will.  Antikes und  vor allem christliches Erbe spielt herein. Jedenfalls gilt dieses Prinzip des Individualismus nicht für alle Kulturen, für die arabische oder die chinesische zum Beispiel ist es längst nicht so bedeutsam.

Eine unverwechselbare Person werden, bedeutet: die eigene Freiheit (als Entwicklungsmöglichkeit) entdecken und Gebrauch davon machen. Aber in welchem Sinne, wozu?

Für den europäischen Individualismus ist es charakteristisch, daß die Bestimmung des ‚Wozu‘ jedem selbst überlassen bleibt. Kein Menschenbild ist vorgeschrieben, nur sozialverträglich soll es sein. Im Übrigen soll jeder nach seiner Facon selig werden können. Wenn auch kein spezielles  Menschenbild vorgeschrieben wird, so ist doch etwas Grundlegendes vorausgesetzt, nämlich dies,  daß der Mensch ein Wesen ist, das offene Spielräume der Selbstgestaltung besitzt. Diese Idee kam zum ersten Mal in der Renaissance auf, etwa bei Pico della Mirandola, der  sehr kühn erklärte, „daß wir das sind, was wir sein wollen“, freilich in den Grenzen der „natürlichen Schranken“, wie er hinzufügt. Der Blick auf die Schranken, dieser ausgefuchste europäische Realismus, ist ein weiterer Aspekt des guten europäischen Erbes.

Es wäre ja zu schön, wenn die Individuen friedlich nebeneinander und miteinander ihre Eigentümlichkeit entwickeln und ihren je eigenen Zwecken folgen. Aber so ist es nicht. Man müßte sehr lebensfremd sein, wenn man nicht das Entsetzliche sehen wollte, das sich Menschen antun können, wenn man also die Blutspur der menschlichen Geschichte, gerade auch in Europa, übersehen wollte. Wie läßt sich der hochgesinnte Individualismus realisieren angesichts der schlimmen Aspekte der menschlichen Realität? Woran übrigens in der christlichen Tradition immer erinnert wurde, weil der Mensch ja als von der Erbsünde verdorben angesehen wurde!

Das liberale Denken, das im 18. Jahrhundert in Europa aufkam, hat zu diesem dunklen Aspekt der menschlichen Realität eine originelle und sehr kühne Idee entwickelt, die sich so umreißen läßt: es mag ja sein, daß die Menschen nicht so gut und vernünftig sind, wie man es gerne hätte, sondern  eigensüchtig und triebhaft, daß sie also einer Lenkung bedürfen. Wie lenkt man, ohne die Freiheit zu ersticken? Antwort: man nutzt die Dynamik des Egoismus, aber bindet sie ein in eine Ordnung aus Konkurrenz und Wettbewerb. Für den Liberalismus hängt alles an der Wirkung des Wettbewerbs von divergenten Interessen, die sich wechselseitig begrenzen und im Wettbewerb sich gegenseitig zu Produktivität und schöpferischer Initiative anstacheln. Das gilt im liberalen Denken wohlgemerkt nicht nur fürs Ökonomische, sondern auch für  das Politische.

Dieser pfiffige Gedanke des Liberalismus ist europäisches Aufklärungserbe und findet sich beispielsweise bei Kant, der erklärte, der Mensch sei zwar aus krummem Holz, aber durch Konkurrenz und Wettbewerb sei Fortschritt möglich. Er erläutert das so: Wenn die Menschen so gutartig wären wie die Schafe, die sie weiden, würden sie nicht über das Niveau ihres Hausviehs hinausgekommen sein. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben… Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeit stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich (daraus)… heraus zu ziehen.

Mit anderen Worten: wie konkurrieren uns empor! Das ist Kants liberales Glaubensbekenntnis.  Tatsächlich: der altehrwürdige Liberalismus der europäischen Tradition denkt sich keinen neuen Menschen aus, er nimmt ihn so wie er ist – als krummes Holz und setzt auf die produktive  und zugleich zivilisierende Kraft von Wettbewerb und Konkurrenz.

Zur liberalen Tradition der Wettbewerbsidee gehört ein weiterer zutiefst europäischer Gedanke, den wir eigentlich gut zu kennen glauben, doch nur selten in seiner ganzen Reichweite und Tiefe erfassen: das Prinzip der Gewaltenteilung nämlich, das zum ersten Mal im 18.Jahrhundert von Montesquieu explizit formuliert wurde.

Es ist uns gut vertraut als die Teilung der Gewalten in Exekutive, Legislative, und Judikative. Wenn wir zur Zeit zum Beispiel hoffen, Trump möge mit seiner ‚neuen‘ Politik sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen, dann setzen wir unsere Hoffnung genau auf dieses System der Gewaltenteilung im amerikanischen System – ein europäisches Erbe.

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zu verstehen als eine Verhinderung des Durchregierens. Gewaltenteilung soll die Gefahren der Mehrheitsdemokratie ausbalancieren. Die Geschichte, beispielsweise der Französischen Revolution, beweist, daß eine Freiheitsbewegung, wenn sie an die Macht kommt, in Diktatur umschlagen kann, wenn sie nicht durch das Recht beschränkt wird. Durch Demokratie allein, durch die Herrschaft der Mehrheit also, ist die Freiheit noch nicht gesichert, denn Mehrheiten können tyrannisch werden, wie ja auch das Beispiel des Nationalsozialismus lehrt, der ja von einer Mehrheit getragen wurde. Die Entwicklung einer Demokratie zur Diktatur läuft über die Aufhebung der Gewaltenteilung.

Auch das Prinzip der Gewaltenteilung- sicherlich eine der genialsten Erfindungen im Politischen – geht davon aus, daß der Mensch ein krummes Holz ist, es steckt ein gesundes Mißtrauen darin. Da Macht immer mißbraucht werden kann, muß sie aufgeteilt werden,  im Prinzip ebenso wie zur Öffnung eines Tresors oder zur Auslösung eines Waffensystems mehrere Schlüssel, auf verschiedene Personen und Institutionen verteilt, erforderlich sind.  Unnachahmlich ist dieses der Gewaltenteilung zugrundeliegende produktive Mistrauen formuliert worden  von Madison, einem der europäisch geprägten Gründungsväter der amerikanischen Verfassung. Es heißt dort: Es mag ein Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur sein, daß solche Kniffe notwendig sein sollen, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt in Schranken zu halten. Wenn die Menschen Engel wären, wäre (solche Gewaltenteilung) nicht notwendig.

Gewaltenteilung knüpft an die Idee der Konkurrenz an, sie ist nichts anderes als geregelte Machtkonkurrenz, um zu verhindern, daß eine Macht ein Monopol erringt.

Diese Zusammenhänge sind uns bekannt; weniger bekannt ist, daß im Interesse der Freiheitsbewahrung dieses Prinzip der Gewaltenteilung Anwendung findet oder finden müsste  in anderen Bereichen.

Nehmen wir das Verhältnis von Ökonomie und Politik, also das Verhältnis zwischen der Macht des Marktes und der Macht der Politik.

Der Liberalismus, der sich allein auf den Ökonomismus des Marktes verengt, würde gegen sein eigenes Prinzip der Konkurrenz verstoßen. Man kann diese Konkurrenz und damit die freiheitsförderliche Machtbalance zerstören – entweder indem man die Politik oder die Ökonomie allmächtig werden läßt. Die Marxisten wollen den Markt abschaffen zugunsten der Alleinherrschaft der Politik, die Ökonomisten, die radikalen Wirtschaftsliberalen also,  wollen die Politik abschaffen zugunsten der Alleinherrschaft des Marktes. Beides ist ruinös. Das Desaster des realen Sozialismus ist bekannt.  Und was die ruinöse Wirkung der entfesselten Märkte betrifft, muss man nur an die große Wirtschaftskrise 1929 mit ihren katastrophalen politischen Folgen erinnern.  Auf dem Hintergrund dieser Fehlentwicklungen bemerkt man: Der moderne Sozialstaat, wie er in verschiedenen Ausprägungen in Europa besteht, ist ein Produkt dieser Gewaltenteilung zwischen Ökonomie und Politik.

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt der Gewaltenteilung ist die Trennung von Politik und Religion – als Lektion aus einer blutigen Geschichte der religiösen Bürgerkriege in Europa. Die europäische Trennung von Politik und Religion bedeutet ganz einfach: politische Entmachtung von Religion. Für den Ungläubigen, den Atheisten, ist diese Trennung eine Selbstverständlichkeit. Aber machen wir uns nichts vor: für den wirklich gläubigen Menschen ist es eigentlich eine Zumutung, die zivilen Gesetze als höherrangig zu akzeptieren als die Gebote, die ein vermeintlicher Gott oder ein Prophet oder eine sonstige heilige Schrift gegeben hat. Und doch: diese Zumutung muß der religiöse Mensch ertragen lernen. Unsere Rechtsordnung steht höher als zum Beispiel die Scharia. Zivilität  bindet Sakralität. Und weiter: Es gibt ja nicht nur die eine Religion, es gibt viele Religionen. In einem freiheitlichen Gemeinwesen  müssen die religiösen Überzeugungen, auch wenn sie sich noch sehr auf etwas vermeintlich Heiliges und Ausschließliches richten, es ertragen lernen, daß sie auf  offenem Markt als bloße ‘Meinungen’ oder ‘Gesinnungen’ wie alle anderen auch  gehandelt werden. Sie müssen es auch zum Beispiel ertragen, karikiert zu werden. Für manche religiös Überzeugten kann das allerdings eine Kränkung bedeuten, die aber in einem freiheitlichen Gemeinwesen unvermeidlich ist. Für die einen ist Mohammed der Prophet, für andere ist er, wie der große Aufklärer Voltaire gesagt hat, nichts anderes als ein Betrüger und Tyrann. Daß man wechselseitig diese diametral einander entgegengesetzten Perspektiven hinnehmen muß, gehört zu einer Kultur der Freiheit. Freilich gilt auch die Aufforderung zum Respekt und gesitteten Umgang, aber einen prinzipiellen Kränkungsschutz für religiöse Gemüter kann es in einer freien, aufgeklärten Gesellschaft nicht geben.

Diese Ideen des Individualismus, der Freiheit und der Gewaltenteilung ergeben zusammen schon ein gewaltiges kulturelles Erbe Europas, aktuell und wirksam bis auf den heutigen Tag. Wir leben daraus und können beobachten, wie sich dieses Erbe globalisiert und wie attraktiv es ist, weshalb es gegenwärtig auch zu der großen Völkerwanderung in Richtung Europa kommt.

Wir wissen also oder sollten es wissen, dass wir einen europäischen Schatz von Lebensformen haben, die es zu bewahren und zu verteidigen lohnt, aber es ist, nach meiner Überzeugung auch klar, dass dieses europäische Erbe sich am besten verwirklicht in den Formaten der einzelnen europäischen Nationen, die sich allerdings wechselseitig bei der Bewahrung und Weiterentwicklung dieses Schatzes unterstützen müssen. Eintracht in der produktiven Vielfalt.

Daraus folgt die unabdingbare Notwendigkeit, das Friedensprojekt Europa und eine förderliche Wirtschaftsgemeinschaft zu bewahren und zu entwickeln – es folgt daraus auch die Notwendigkeit gemeinsamer militärischer Anstrengungen, um den europäischen Freiheitsraum verteidigen zu können (Europa, besonders aber Deutschland muss in dieser Hinsicht erwachsen werden), es folgt daraus auch die Schaffung einer kontrollierte europäische Außengrenzen im Blick auf die Migrationslawinen der Zukunft,  es folgt daraus aber keinesfalls, dass Vereinigte Staaten von Europa, also ein einheitlicher europäischer Bundesstaat,  das sich daraus zwingend ergebende und deshalb anzustrebende  Ziel sein müsste.

Nur ein paar Gedanken dazu: zu einem europäischen Bundesstaat gehört ein europäisches Staatsvolk. Das gibt es aber nicht. Und dass es  das nicht gibt, hängt eben auch mit der europäische Geschichte zusammen, ist auch ein Erbe Europas. Ein explosives, ein gefährliches Erbe, denn die Geschichte zwischen den europäischen Nationen war ja, wie wir wissen, höchst kriegerisch. Zum Wunder Europas gehört deshalb auch die Zähmung und Zivilisierung der Nationen. In dem Maße aber, wie man es darauf anlegt, die Nationen zum Verschwinden zu bringen, würde man erst recht die alten Gespenster wachrufen, man würde erst recht die gefährlichen Gegenkräfte mobilisieren. Nein, was wir brauchen ist das Europa der  auf einer verbindlichen Wertegrundlage kooperierenden europäischen Nationalstaaten, ein Europa irgendwo zwischen dem Europa der Vaterländer und einem Superstaat, ein Europa des Subsidiaritätsprinzips, bei dem die nächst höhere Ebene nur die Aufgaben übernimmt, welche die Ebenen darunter nicht bewältigen können.

Die Formate der Nationen sind auch deshalb so bedeutsam,  weil Demokratie eher in den kleinen und mittleren Maßstäben zu verwirklichen ist.  Je größer das staatliche Gebilde, desto mehr wächst auch das Demokratiedefizit. Ein Bundesstaat Europa wäre wahrscheinlich weniger demokratisch als die meisten der jetzigen Nationalstaaten der EU. Sich über die real existierenden Nationalstaaten in Europa hinwegzusetzen, bedeutet stets eine Einbuße an Demokratie. Das zeigt sich ja auch an den fatalen Folgen der Einheitswährung, deren Konzipierung auf sträfliche Weise Volkswirtschaften mit Betriebswirtschaften verwechselt hat. Volkswirtschaften haben jeweils einen nationalen,  kulturellen verankerten Stil, den man nicht ohne Strafe gleichschalten darf. Wir sehen das am Beispiel Griechenlands. Die Rettungsaktionen ruinieren die Demokratie dieses Landes. Eine grausame Ironie, denn hier, in Athen, stand ja, wie wir wissen, die Wiege der europäischen Demokratie.

Was gegen den Großstaat Europa spricht sind gerade diese Traditionen, die ich benannt habe. Gewaltenteilung: es ist gut, dass die Macht zwischen Nationen aufgeteilt ist und sich nicht in einem Zentrum sammelt. Individualismus: es ist gut, dass der Individualismus sich auf der nächst höheren Ebene zeigen kann, nämlich bei der Vielfalt der Kulturen und Nationen. Europa ist eben nicht einfach ein homogener Raum, sondern eine Einheit des Heterogenen. Das muss verbunden werden, aber nicht zu eng, denn das kennt man aus den Familien: ist die Bindung zu eng, kommt es zum Streit, und irgendeiner hat dann immer das Gefühl, seine Freiheit verloren zu haben.

Kurzum: Vorsicht also gegenüber den Elefantenträumen der Großstaatsbefürworter. Sie entsprechen eben nicht dem Europa des Individualismus, der Freiheit, der Demokratie, der Pluralität, der Gewaltenteilung – was alles die Werte und das eigentlich Liebenswerte Europas ausmacht.

Dr.Jörg Mangold

Laudatio auf die Jagdzeitschrift DER  ANBLICK

Zur Verleihung des Ortega-Preises für Jagdkultur 2017  am 31.Mai 2017 im Schloß Solitude, Stuttgart

Laudatio auf den ANBLICK

Es sind nun genau 46 Jahre her, dass ich zum ersten mal in meinem damaligen noch jungen Jägerleben im Berg auf Gams jagen durfte. Dieser  frühherbstliche, von heftigen Wetterkapriolen begleitete Tag war für mich  in zweifacher Hinsicht schicksalshaft, nicht nur für mein  Jägerleben sondern auch für mein Leben an sich. Zum einen erfuhr ich bei dem zweitägigen Aufenthalt in den Loferer Steinbergen  in der auf 1400 m hoch gelegenen Rotschütt Hütte dieses ganz besonders starke Gefühl von  Heimeligkeit, Glück und Geborgenheit , wie es nur an Orten möglich ist, die unter einem guten Stern stehen. Und an so einem Ort, war mir nicht nur unsere Jagdgöttin Diana hold, hier überreichte mir Hilde, die Frau des Jägers Toni ein mit Schnüren fest zusammengezurrtes Paket mit den Worten: „nimm`s mit, s`is z`schad zum verbrenna „  Was ich da überreicht bekam war für mich höchst virulent, und ich hatte mich auch sofort infiziert, mit einem Virus, das ich bis auf den heutigen Tag in mir trage , dem Bergjagdvirus. Das Paket enthielt, Sie werden es sich denken können, lückenlos die zwölf Ausgaben des ANBLICK des Jahres  1971.  Über viele Jahre, solange ich dort an der Seite meines väterlichen Freundes Prof Guthsmuths jagen durfte, bekam ich von Hilde zum Jahresende das neue Paket, mit den deutlich abgegriffenen Heften des vergangenen Jahres. Gibt es für eine Zeitschrift ein schöneres Kompliment als diese Abgegriffenheit? Legt sie doch davon Zeugnis ab, wie häufig sie  immer wieder aufgeschlagen und durchgeblättert und mit großen Interesse durchgearbeitet wurde, nicht nur vom Abonnenten sondern auch von dessen ganzer Familie, bis die Hefte schließlich bei mir landeten. Ich habe sie heute noch. Sie bilden den Grundstock meines von 1971 bis auf den heutigen Tag  lückenlos geführten ANBLICK Archivs.

Zudem bildet der ANBLICK auch den Grundstock, das feste Fundament für meine jagdliche Gesinnung. Der Anblick war und ist für mich und sicher auch für viele Jägerinnen und Jäger nicht nur eine Zeitschrift, ein Magazin was hilft die Zeit zu vertreiben, sie ist  ein Vademecum, ein Begleiter  nicht nur durch das Jagdjahr, sondern durch das ganze Jägerleben.

Es liegt mir fern eine Bewertung  vorzunehmen der vielen im deutschsprachigen Raum im Handel befindlichen Zeitschriften, die sich mit der Natur, hauptsächlich mit dem Landleben und der Bergwelt beschäftigen. Die Regale in den Zeitschriftläden quellen über von immer neuen Hochglanzblättern, die alle in ihrem Titel das Wort Land od. Berg enthalten, Landlust, Berglust, Landküche, Schönes Land ,  Landapotheke,  Land und Berge  Mein schönes Land , usw …  manche verschwinden und neue Titel tauchen auf, durchaus schön zu lesende,  informative und reich bebilderte Journale,… aber allesamt, außer  der Zeitschrift SERVUS in Stadt und Land , machen sie um die Jagd einen weiten Bogen…..da geht ein wenig Glaubwürdigkeit verloren. Ich brauche das nicht weiter kommentieren.

Der ANBLICK, Zeitschrift für Jagd und Natur in den Alpen   ist etwas ganz Besonderes. Alleine schon beim Betrachten des Titels bekommt man diesen Eindruck. Nicht aufreißerisch, nicht effekthaschend, lediglich dezent  der Schriftzug DER ANBLCK und das Logo, der Auerhahn und ganzseitig ein Titelbild,  das zum Verweilen einlädt, ohne störende Werbung oder das Bild zerstörende Schriftzüge oder Preisangaben in allen möglichen Währungen..

Schon auf dieser ersten Seite  spürt man wie achtsam hier mit der professionellen Arbeit des Fotografen oder des Tierfotografen umgegangen wird, der oft stundenlang auf den Augenblick hofft  und warten muss, bis ihm dieser Anblick vergönnt ist, der ihm solch ein Bild , solch eine Aufnahme  möglich macht. Diese Wertschätzung der Arbeit aller an einem Heft Beteiligten setzt sich Seite für Seite fort. Diese Wertschätz ist das Ergebnis einer sehr guten Schule, die die Chefredakteure des ANBLICK über viele Jahrzehnte ihren verantwortlichen Redakteuren und Gestaltern bis auf den heutigen Tag  haben angedeihen lassen.

DER ANBLICK, welch ein genialer Name für eine Zeitschrift, die sich mit der Jagd und der Natur in den Alpen beschäftigt. Es gäbe keinen Besseren!  Der scharfe,  sichere Blick durch das Fernglas zum Ansprechen des Wildes und der Blick durch das Zielfernrohr in den Sekunden vor dem Betätigen des Abzugs ist unabdingbare Voraussetzung für einen sicheren Schuss, aber der Blick am Zielfernrohr vorbei, der Blick auf all das was sich draußen vor uns auftut, der Anblick, den uns die Natur in ihrer Großartigkeit und Vielfältigkeit  bietet und schenkt,  macht die Jagd für uns so kostbar. Dabei richtet DER ANBLICK seinen Blick  nicht nur auf den kapitalen Gams, Hirsch oder Rehbock. Er lenkt seinen Blick auch auf das scheinbar Unbedeutende. Das reicht von der Ameise, vom Käfer bis hin zur Silberdistel und zum Almrausch. DER ANBLICK lenkt unseren Blick und  hilft uns dieses scheinbar Unbedeutende zu erkennen und schließlich zu schätzen und zu lieben.

Nur was ich kenne, sagt Konrad Lorenz, liebe ich und was ich liebe schütze ich.

Genial machen die Macher des ANBLICK das! Sie zeigen den Lesern die ganze Vielfalt der Flora und Fauna in den Alpen, wecken bei uns das Interesse für immer wieder Neues und gewinnen uns so als Mitverantwortliche für den Erhalt dieser wunderbaren Bergwelt.

Sie fangen schon früh mit dieser ganz und gar nicht schulmeisterlichen Erziehung  an, bei den Kindern, die im ANBLICK  vieles einfach noch überblättern (das sei ihnen zugestanden)  aber spätestens beim JUNGEN ANBLICK hängen bleiben um sich vom lustigen  Raben Seppl Bastelanleitungen zu holen.

Mit dem Bestehen der Jägerprüfung bekommt man die behördliche Erlaubnis auf die Jagd zu gehen, was aber noch lange nicht heißen muss, dass man ein firmer Jäger ist. Mit dem Jäger ist es so, wie mit dem Künstler, auslernen werden beide nie, sie dürfen nie glauben fertig zu sein!

Dem jungen wie auch dem älteren Jäger ist der ANBLICK eine unschätzbare Hilfe sein jägerisches Handwerk stetig zu verbessern. Als Jäger identifizieren wir uns mit den Zielen der Land-und Forstwirtschaft und dankbar nehmen wir die neuesten Forschungsergebnisse der Wildbiologen und Veterinärmediziner an.  Hier kann der ANBLICK auf einen Pool hochkarätiger  Wissenschaftler und Fachleute zurückgreifen und dem Leser die neuesten Erkenntnisse sozusagen aus erster Hand liefern.

( Dr Hubert Zeiler, Dr Armin Deutz, Ofö Fladenhofer, Bruno Hespeler , WM Matthias Meier, Veronika Grünschachner-Berger)

Als Vorsitzendem des Ethikrates des Bayerischen Jagdverbandes ist es mir eine ganz besondere Freude zu spüren und zu erkennen,  dass es dem Anblick nicht genügt nur jägerisches  Wissen zu vermitteln.

Der von mir so geschätzte  Schweizer Jagdphilosoph Eugen Wyler hat möglicherweise mit seinen Gedanken auch Einfluss genommen auf die Arbeit der ANBLICK Redaktion, wenn er sagt:

Die Welt wird nicht erlöst durch Wissen allein! Es gilt einen gefährlichen Aberglauben zu bekämpfen, den Aberglauben  Wissen allein genüge. Nicht die Lösung der letzten technischen  Probleme ist für die Zukunft der Menschen entscheidend, sondern die Gesinnung, die Bildung des Herzens, der Charakter.

Nun komme ich zu dem Punkt, der in ganz besonderer Weise den ANBLICK  prädestiniert mit dem Ortegapreis ausgezeichnet und geehrt zu werden.

Einer alten Tradition folgend genießt die jagdliche Belletristik nach wie vor beim ANBLICK einen hohen Stellenwert. Geschickt versteht er es aus einer großen Zahl von eingesandten Manuskripten, solche herauszusuchen, die nicht von ballistischen  Daten und Entfernungsangaben strotzen und den Autor als Meisterschützen ausweisen, sondern  die Einblick in das Seelenleben des Erzählers gewähren und dem Leser verdeutlichen, dass  die Jagd  (oder lassen Sie mich bitte den vielsagenderen   Ausdruck Jagern  gebrauchen) , dass Jagern mehr ist als nur Beute machen, dass Jagern eine geistige Begegnung mit der Natur und der wunderbaren Schöpfung ermöglicht, was uns demütig werden lässt. Eine Erfahrung, die vielen unserer Mitmenschen verwehrt bleibt,

Erzählungen, die verdeutlichen, dass die Jagd, und ganz besonders die beschauliche Jagd in den Bergen uns in  eine unglaubliche Stimmung versetzen kann und uns als einsame Jäger in der Abgeschiedenheit der Bergwelt eine Zwiesprache mit der Natur ermöglicht, und wir plötzlich erkennen, dass Wildtiere für uns nicht immer nur  begehrte Objekte sind, die wir  erbeuten wollen, sondern dass wir sie plötzlich als Subjekte erkennen, für die wir eine große Verantwortung übernehmen müssen. .

Um seinen Lesern diese geistige Dimension der Jagd zu verdeutlichen, bieten  die ANBLICK Macher auch der bildenden Kunst viel Raum,  den sie braucht um ihre Botschaft rüber zu bringen. Künstler wollen oder sollten Künder sein, die Kunde geben von der großartigen Schöpfung und der  bezaubernden freilebenden Tierwelt, auch wenn gerade die Tier- und Jagdmaler  geringschätzend als Wald- und Wiesenmaler abgestempelt werden, weil sie sich angeblich nur in der Darstellung der heilen Welt ergehen. (DR Hubert Zeiler, Veronika Grünschachner-Berger, Hubert Sauper)

Der ANBLICK ist alles andere als eine jagdliche Version von  „Heimatglocken“ oder wie sonst diese Beilagen in den Tageszeitungen heißen. Er greift natürlich auch Themen auf, die kontrovers diskutiert werden , und scheut sich nicht kämpferisch Missstände anzuprangern, und das ist gut so, aber er bekennt sich  auch zur heilen Bergwelt, zur heimatlichen Bergwelt , zur Heimat, die mit der Jagd untrennbar verbunden ist und hilft so Sehnsüchte zu stillen, die von uns Menschen  in einer globalisierten Welt mehr und mehr Besitz ergreifen.

Zugleich blickt der ANBLICK über den Tellerrand hinaus und schaut unter der Rubrik  „JAGAREIEN AUS…“ in die Nachbarländer und macht immer wieder deutlich , dass die Jagd ein großes verbindendes Element  darstellt, dass die Sprache des  Jägers überall verstanden wird, dass wir alle , egal welcher Nationalität wir angehören, doch irgendwie  über Grenzen hinweg zusammengehören. Was uns verbindet, das ist die jagdliche Gesinnung, die Ortega von uns Jägern fordert und die uns zu wahren Jägern im Sinne Ortegas macht. Die Jagd hat eine nicht zu unterschätzende  völkerverbindende Kraft.

Dass Jäger oft die Zielscheibe von Spöttern und Witzeerzählern sind, das wissen wir. Wir treffen angeblich nichts, übertreiben immer maßlos und bekommen von unseren Frauen Hörner aufgesetzt wenn wir im Revier weilen. Zugegeben, wir Jäger sind nicht immer grade große Gaudiburschen und tun uns schwer über solche Zoten zu lachen. Hier greift der ANBLICK therapeutisch ein und lässt den Humor nicht zu kurz kommen. Herbert Trummler vulgo Prof. Augur  und ich mit meinen Cartoons versuchen in homöopathischen Dosen die humorloseren Leser  des ANBLICK zum Lachen oder doch wenigstens zum Schmunzeln zu animieren. Wohl wissend, dass nicht jeder der lacht sich auch freut, denn wahre Freude, wie Seneca sagt, ist eine ernste Sache.

Diese großartigen Zeitschrift, die wir heute mit dem Ortega Preis für Jagdkultur  ehren dürfen haben wir Menschen zu verdanken, die sich in ganz besonderer Weise der Bewahrung der Jagdkultur verschrieben haben  und dem Geistigen und der Poesie der Jagd immer einen hohen Stellenwert eingeräumt haben.

Gegründet im April 1946 von Prof Willi Hoffer, fortgeführt von 1955 bis 1987 als  Chefredakteur von Dr. Heribert Horneck  Ihm folgte  als CR von 1987 bis 2014 , eine sehr segensreiche Zeit für den ANBLICK, Hannes Kollar. Seit 2015 liegt der ANBLICK in den  Händen von CR Martin Ossmann, einem Kollar-Schüler und somit ein Garant für  einen stets guten ANBLICK,  und seinen Mittarbeitern und Mitarbeiterinnen

Ing Stefan Maurer

Martin Garber

Ing. Georg Hofer

Sigrid Kriegl Büroleitung

Ramona Baumgartner Tschuchnick   Buchhaltung

Sabine Pratter Abo Verwaltung

Silke Sladek  Layout

Was wäre der ANBLICK, wenn er es nicht einen gäbe, der schützend die Hand über ihn hält und seine Schützlinge am langen Zügel agieren lässt. Ein ganz besonderer Dank gilt dem Verleger des ANBLICK, der Steirischen Landesjägerschaft. Es freut mich sehr, dass der neue steirische Landesjägermeister  Baron Franz Mayr Melnhof  an diesem Ehrentag  bei uns ist und unsere Glückwünsche gehen an ihn und an seine ANBLICK Familie

Sollten Sie einmal beim Gamsjagern in einer Jagdhütte ein Feuer machen wollen, bewahren sie bitte die dort möglichweise  seit Jahren in einer  Schublade lagernden, alten, von Mäusen angenagten ,verstaubten ANBLICK Ausgaben.  Sie sind immer noch aktuell. Verwenden Sie zum Anfeuern eine alte Kronenzeitung, die brennt besser !!!

Ihnen allen von Herzen  stets guten ANBLICK in doppeltem Sinne und ein herzliches Waidmannsheil

Ich danke Ihnen.

Der Homo Oeconomicus Prof. Dr. Klaus Mangold
als kultureller Verantwortungsträger zwischen Jagd und Gesellschaft
Albrecht Fürst zu Oettingen-Spielberg brachte als Laudator den Festgästen  die Persönlichkeit des Preisträgers in die Sicht.

Der Laudator folgte den Lebenslinien von Klaus Mangold in den mannigfaltigen Ausprägungen der individuellen Gestalt einer Persönlichkeitsentfaltung in fernen Horizonten Menschen möglicher  Ziele.Fürst Albrecht erkannte die kulturellen Leitlinien von Prof. Dr. Klaus Mangold, die in Pindars Diktum “Der Weg ist das Ziel” das Leben des Preisträgers kennzeichnen: Ein Weg in Verschränkung mit dem angestrebten Ziel, wie es nach Pindars Denken über Aristoteles bis zu José Ortega y Gasset  und Johann Wolfgang von Goethe  immer ein Streben gewesen ist, das im Menschen genetisch Vorgegebene mit dem durch Kultur und Sozialisation Aufgegebenen  idealiter  zur sittlichen Persönlichkeit zu verbinden: “Werde, der du ist!”

Das Aufgegebene bilden bei Aristoteles die Tugenden.

Bei Ortega ist es nicht eben das Leben selbst, sondern etwas, woran ich mein Leben setzte: Etwas jenseits des Lebens.Eine höhere Zielgestalt, die in morderner Zeit des 21. Jahrhunderts oft mit Werten begriffen wird, die eine Wertkategorie im Menschen ausbilden, an der er sich selbst misst und an der ihn andere messen.Ein Mensch dieses guten Schlages hat also Charakter. An bunten Beispielen  praktischen Lebensvollzugs des Preisträgers Klaus Mangold vermittelte Albrecht Fürst zu Oettingen-Spielberg den Festgästen ein Persönlichkeitsbild wertkonservativer Prägung.

Demgemäß ist Klaus Mangold konservativ, liberal und fortschrittlich modern in dem Sinne, wie es der frühere Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl einmal zum Ausdruck brachte:” Ich bin konservativ, weil ich Fortschritt und Zukunft in Freiheit  will.”

Den Preisträger kennzeichnet nach alledem ein Charakter  der Unverwechselbarkeit in der Einheit von Erscheinungsbild und Sein, ein Charaktertypus der Identität von Wunsch und Wille : Wir sollen sagen, was wir denken und wir sollen  das, was wir denken auch tun. Schließlich sollen wir das, was wir tun dann auch sein.

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