von
Dr. Peter Gauweiler, MdB
Staatsminister a.D.
Verleihung des Ortega-Preises für Jagdkultur
„Europa als Kultur ist nicht dasselbe
wie Europa als Staat“
Deutsches Jagd- und Fischereimuseum
München, am 11. März 2015
“Yo soy yo y mi circunstancia”
Gratulation zum Ortega-Preis!
Ich hoffe, dass es bei dieser Preisverleihung nicht ist wie beim Geburtstag und man vorher nicht gratulieren darf. So riskiere ich es und gratuliere schon jetzt auf das Herzlichste den beiden Vertretern deutscher Jagdkultur, die heute mit dem Ortega-Preis für Jagdkultur ausgezeichnet werden.
Dieser Preis, der mit dem Namen, dem Denken und Wirken von José Ortega y Gasset verbunden ist, ist für den, der mit Jagd und Natur verbunden ist, eine ebenso herausragende wie berührende Würdigung.
Der Umweltminister und die Jagd In meiner mittlerweile schon etwas längeren politischen Laufbahn war ich auch einmal bayerischer Umweltminister und habe mich als solcher mit allen Formen des menschlichen Umgangs mit der Natur befassen dürfen, den positiven wie den negativen.
Eine davon, die mich besonders fasziniert und angezogen hat, war und ist die Jagd – was ich damals in mancher “grüner” Runde nicht allzu laut sagen konnte.
“Meditationen über die Jagd“ Ich bin damals auch auf die “Meditationen über die Jagd“ des großen spanischen Schriftstellers und Philosophen Ortega y Gasset gestoßen, der darin die Jagd als die erlebbare Einheit von Personen und Umwelt beschreibt.
Er folgt darin seinem schon 1914 formulierten, später berühmt gewordenen Satz: „Ich bin ich und meine Umwelt“ (“Yo soy yo y mi circunstancia”). Umwelt ist dabei nicht nur in einem ökologischen Sinne aufzufassen, sondern meint alle Umstände, alle reale soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Gegebenheit.
Ökologie vor aller Ökologie So versteht Ortega y Gasset dann auch die Jagd als ein Erlebnis der Einheit mit der Natur.
Sowie Tiere einander jagen, ständig Jagende und Gejagte oder beides in einem sind, und bei Wegfall dieser Lebensumstände körperlich und seelisch degenerieren, so erfährt der jagende Mensch sich selbst als Teil dieser Natur.
Der Mensch und die Menschheit, ihr persönliches und „artspezifisches“ Werden und Sein, ihre Existenz und Zukunft als Teil der Umwelt, mit dieser auf Gedeih und Verderb untrennbar verbunden – alles, was die moderne Wissenschaft von der Ökologie im Kern besagt, ist in diesem Satz enthalten, formuliert in einer Zeit, als noch niemand an Umweltschutz oder Ökologie dachte:
“Ich bin ich und meine Umwelt”
Dekan der Europa-Idee
Leitmotiv Europa Ebenso früh hat Ortega y Gasset, dieser große spanische Philosoph, Essayist, Soziologe und Prosaschriftsteller, sich auch mit der Idee der europäischen Integration befasst, die dann zu einem Leitmotiv in allen Etappen seines philosophischen und schriftstellerischen Wirkens wird. Er hat sich selbst und völlig zu Recht als „Dekan der Europaidee” bezeichnet – so in seinem großen Vortrag von 1953 in München:
“Sehr wahrscheinlich, leider, bin ich heute unter den Lebenden der “Dekan”, der älteste von denen, welche die Idee Europa ausgerufen haben.”
Wir heute können ergänzen:
“Auch einer der größten”.
Vereinigte Staaten von Europa So heißt es in seinem Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ von 1930:
„Ist es so sicher, dass sich Europa im Abstieg befindet und die Herrschaft niederlegt, abgedankt?
Sollte nicht dieser scheinbare Niedergang die heilsame Krise sein, die Europa gestattet, wahrhaft Europa zu werden?
War nicht der offenbare Verfall der europäischen Nationen eine unvermeidliche Notwendigkeit, wenn eines Tages die vereinigten Staaten von Europa entstehen und Europas Vielfalt durch seine echte Einheit ersetzt werden sollte?…
Europa ist als Gefüge kleiner Nationen entstanden. Nationalgedanke und Nationalgefühl waren in gewissem Sinn seine bezeichnenden Erfindungen. Nun sieht es sich gezwungen, sich selbst zu überwinden. Das ist das Schema des gewaltigen Dramas, das sich in den kommenden Jahren abspielen wird. Wird sich Europa von den Überresten der Vergangenheit befreien können oder für immer ihr Gefangener bleiben?
Denn es ist schon einmal in der Geschichte geschehen, dass eine große Zivilisation starb, weil sie ihre überlieferte Staatsidee nicht aufgeben konnte…“
Das ist geschrieben nach dem Ersten Weltkrieg. Die sich anbahnende Katastrophe des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs konnte sich auch ein so hellsichtiger Geist wie Ortega y Gasset damals nicht ausmalen.
KULTURDEFINITION der U N E S C O
„Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen.
Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertesysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte sich diese Herausforderung erneut und noch drängender. Wir verdanken dem Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie, dass Ortega y Gasset am 29. September 1953 in München in einem weltberühmten Vortrag der Frage nachgehen konnte:
„Gibt es ein europäisches Kulturbewusstsein?“
Kulturbewusstsein als Grundlage der Vereinigung In diesem Vortrag skizzierte Ortega die kulturelle Entwicklung Europas als Voraussetzung für den Prozess einer politischen Vereinigung: Nur wenn es ein gemeinsames europäisches Kulturbewusstsein gäbe, könne man über die Vereinigung Europas nachdenken.
So heißt es in dem Vortrag:
Grundkapital gemeinsame Kultur “Die Völker Europas sehen sich heute vor einer Reihe von Gefahren und Schwierigkeiten, die umfassendere Lösungen zu verlangen scheinen, als sie die einzelnen … Völker zu erreichen vermögen.
Es scheint, als hätten alle diese Völker das Gefühl, dass sie aufeinander angewiesen sind und bereit sein müssen, gemeinsame Arbeit zu leisten und wie ein geeintes Europa zu handeln. Dies würde und wird nicht möglich sein, wenn sich die westlichen Völker fremd bleiben und wenn in ihnen nicht eine gemeinsame Grundlage vorhanden ist.
Der Druck der Verhältnisse … würde allein nicht dazu ausreichen ….
Ihr die richtige Form zu geben, ist ein riesiges Unternehmen, dass man nicht improvisieren kann. Eine solche Unternehmung wäre ohne ein Grundkapital unmöglich. Dieses Grundkapital kann aber nur in einem gemeinsamen Kulturbewusstsein bestehen, das schon da sein muss.“
Historisch einzigartiger Erfolg
62 Jahre später Seit diesem Vortrag von 1953 sind bald 62 Jahre vergangen. Welchen Vortrag würde Ortega y Gasset wohl heute erhalten? Würde er seinen Vortrag von damals umschreiben? Wäre er glücklich oder enttäuscht, angesichts dessen, was sich in diesen zweiundsechzig Jahren in Europa vollzogen hat?
Glück des Kontinents Ich glaube, dass Ortega die vergangenen 62 Jahre als das würdigen würde, was sie sind: eine unglaubliche, glückliche, historisch einmalige Leistung.
Bei aller Kritik, die an der Entwicklung und dem Zustand der europäischen Integration angebracht ist, und Sie wissen, dass ich mit solcher Kritik nicht spare, so ist doch das Europa von heute ein unglaubliches Glück für diesen Kontinent.
Blick zurück Es genügt ja ein kleiner Blick zurück auf 1953, das Jahr des Vortrags, und das, was sich seither vollzogen hat.
17. Juni 1953 Im Juni des Jahres 1953 zeigt die DDR erstmalig die ganze Brutalität und Inhumanität dieses kommunistischen Regimes.
Kalter Krieg Im Juli 1953 endet der Koreakrieg, der mit dem kommunistischen Angriff auf Südkorea die Welt an den Rand eines Dritten Weltkriegs gebracht hatte und mit dem endgültig ein Kalter Krieg zwischen Ost und West eingeleitet und die Teilung Deutschlands verfestigt wurde.
Im Westen: Versöhnung Im westlichen, freien Teile Europas begannen die Staaten langsam in einem Werk der Versöhnung die tiefen Gräben des Weltkriegs zu überwinden und die Bundesrepublik Deutschland schrittweise in ein Netz der Partnerschaft einzubinden.
EGKS Im Juli 1952 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet, die sich auf die Zusammenarbeit wichtiger Schlüsselindustrien richtete, letztlich und vor allem aber der deutsch-französischen Aussöhnung diente.
EVG Gleichzeitig kam die Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf, die 1954 dann aber scheiterte.
EWG und Euratom Fünf Jahre später (1958) entstanden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euratom.
EG Vierzehn weitere Jahre später (1967) wurde die Europäische Gemeinschaft (EG) durch die Zusammenlegung der drei Teilgemeinschaften EGKS, EWG und Euratom gegründet.
Maastricht 1992 wird mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union und die Wirtschaft- und Währungsunion gegründet und eine gemeinsame Währung, der Euro, eingeführt.
Lissabon Als Ersatz für den EU-Verfassungsvertrag, der 2005 in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wird, wird der Vertrag von Lissabon geschaffen, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist.
Osterweiterung Nach dem Ende des Kalten Krieges, nachdem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Wiedererstehen freier, souveräner Staaten Mittel- und Osteuropas treten in den Jahren nach 2000 die baltischen Staaten, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn, später dann Bulgarien und Rumänien, schließlich auch Kroatien der Europäischen Union bei.
Höchst dynamisches staatliches Gebilde Aus den kleinen, bescheidenen Anfängen des Jahres 1953 ist in den vergangenen sechzig Jahren ein staatsförmiges Gebilde entstanden, das sich in dieser Zeit entwickelt hat wie kein anderes Staatswesen auf der Welt. Man könnte fast sagen: ein „als ob Staat.“
Europa als Kultur und Europa als Staat
Zum Thema Dem Juristen, dem Rechtsanwalt und Parlamentarier sei noch ein Wort zu den Ausführungen Ortega y Gassets in München zum Staat gestattet. In dem Zitat, das zu unserem heutigen Thema geworden ist, führt Ortega aus:
„Es muss daher festgestellt werden, dass es zwar von jeher ein europäisches Kulturbewusstsein, aber scheinbar noch nie eine Europa-Einheit in dem Sinne gegeben hat, indem man diesen Ausdruck heute gebraucht, nämlich als Staatsgebilde. Europa als Kultur ist durchaus nicht das gleiche wie Europa als Staat.“
Europas Wurzel in der Kultur Damit hat er natürlich recht. Europa ist älter als die moderne staatliche und überstaatliche Organisation, die sich heute als Europäische Union darstellt. Europa reicht tiefer in die Geschichte zurück, es wurzelt in der Kultur und den Zusammenleben seiner Völker. So viele Wandlungen und Akzentuierung in der Begriff „Europa” im Verlauf seiner Geschichte auch erfahren hat, immer
hatte er eine völlig andere Dimension als die moderne Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten.
Staat als Kultur Doch meine ich, dass wir das, “was die Juristen Staat nennen“, so Ortega mit ironischem Unterton, als das würdigen sollten, was es ist:
ein Teil unserer europäischen Kultur.
Seit dem Anbeginn europäischer Geschichte ist der Staat in seinen europäischen Formen ein herausragendes Spezifikum europäischer Identität:
• die klassische griechische Demokratie, die erste, große Vision eines Staates freier, selbstbestimmter Bürger,
• das römische Rechtswesen, das bis zum heutigen Tage fortwirkt,
• die mittelalterliche Trennung der Gewalten, von Thron und Altar: hier der Papst, dort der Kaiser,
eine freiheitssichernde Gewaltenteilung, die alle religiöse oder ideologische Theokratie ablehnt,
sie,
• die Selbstverwaltung der Städte, als Orte bürgerschaftlicher Selbstbestimmung,
• die Befriedung eines jahrzehntelangen religiösen Bürgerkriegs und die Herausbildung eines Staates, in dem unterschiedliche Religionen in einem gemeinsamen Staat gleichberechtigt und tolerant Zusammenleben,
• die Ausbildung der modernen Nationalstaaten, dessen Souverän das Volk ist – gleich wie man nun dieses Volk definieren will, gemäß französischer Schule nach Sprache und Kultur, gemäß deutscher Schule nach Ethnie und Abstammung,
• nicht zuletzt und vor allem: die Entwicklung unserer heutigen demokratischen und rechtsstaatlichen Staatlichkeit, mit Gewaltenteilung, unabhängigen Gerichten und gewählter Volksvertretung.
Das ist eine historische, letztlich kulturelle Leistung Europas, um die uns viele, viele Völker der Welt beneiden.
Man braucht nicht weit über die Grenzen Europas zu blicken, um sich davon zu überzeugen.
Vereinigte Staaten von Europa?
Staatenverbund oder Bundesstaat Wenn wir heute in der europäischen Union darum ringen, ob sich die europäische Union vom Staatenverbund zu einem Bundesstaat fortentwickeln soll, ob die EU zu einem supranationalen Gebilde werden oder ob es bei dem Zusammenwirken einzelner Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele bleiben soll, dann geht es um
zutiefst kulturelle Fragen:
Es geht um Demokratie, Selbstbestimmung, Subsidiarität – also den Aufbau des Staates von unten nach oben mit dem weitesten möglichen Recht der unteren Ebene auf Gestaltung der eigenen Angelegenheiten.
Es geht um Freiheit, um Vielfalt, um die Nähe zur Heimat und zum Menschen – alles ur-europäische kulturelle Güter und Werte.
Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts Dieser Streit der beiden gegensätzlichen Konzepte einer europäischen Integration bewegt seit Beginn der europäischen Einigung die europäischen Staaten und wird sie auch künftig umtreiben. Für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit großen, wegweisenden Entscheidungen feste Leitplanken für die deutsche Einigungspolitik gelegt.
Ich bin durchaus stolz, dass ich mit meinen Verfassungsbeschwerden nicht unwesentlich dazu beitragen konnte.
Maastricht-Urteil Die Reihe dieser Entscheidungen beginnt mit dem Maastricht-Urteil vom 12.10.1993.
Mit dem Vertrag von Maastricht wurde zum einen die Europäische Union gegründet, die die bis dahin existierenden europäischen Gemeinschaften überwölben sollte. Zum anderen wurde im Vertrag von Maastricht die Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungs-Union beschlossen, die später zur Einführung des Euro führte.
Frage der demokratischen Legitimation Gegen das Ratifizierungsgesetz und die Verfassungsänderung wurden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht. Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht den Unionsvertrag für vereinbar mit dem demokratischen Prinzip erklärt, dabei aber bestimmte Voraussetzungen für die Europäische Union festgehalten und bestimmte Anforderungen an ihre demokratische Legitimation hervorgehoben.
Staatenverbund
Mit seiner ausführlichen Begründung hat das Bundesverfassungsgericht Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Europäische Union sei ein „Staatenverbund“, der einerseits hoheitliche Rechte besitzt und darum kein reiner Staatenbund sei. Andererseits könne er sich auf kein europäisches Staatsvolk stützen und sei darum auch kein Bundesstaat.
Demokratische Legitimation durch Mitgliedsstaaten „Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft an einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist.
Rechtsherrschaft der Mitgliedsstaaten Die Bundesrepublik Deutschland ist somit auch nach dem Inkrafttreten des Union-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedsstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur Kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann.“
Urteil zum Vertrag von Lissabon 16 Jahre später wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon zu einer “Sternstunde“ der deutschen Verfassungsgeschichte, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei der Vertrag von Lissabon zwar mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, dürfe in Deutschland aber erst ratifiziert werden, wenn das deutsche Begleitgesetz das in zentralen Fragen verfassungswidrig sei, neu gefasst dem deutschen Bundestag mehr Rechte einräumt.
Demokratische Legitimation unzulänglich Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgehalten, dass die demokratische Legitimation der EU-Organe auch nach dem Vertrag von Lissabon unzulänglich sei. Die Gesetzgebung der EU werde letztlich nur über die Mitgliedsstaaten demokratisch legitimiert.
Keine gleichen Wahlen Wie das Bundesverfassungsgericht festhält:
“Gemessen am verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahlen aller Unionsbürger zu Stande gekommenen politischen Entscheidungsorgan Organ mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillen.
Weder Regierungsbildung noch Opposition
Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaft Organisationen, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann.“
Degressiv proportionale Vertretung Der vom Bundesverfassungsgericht gerügte Verstoß gegen das Gebot einer gleichen Wahl, die so genannte degressiv proportionale Vertretung der Bürger im europäischen Parlament, nahm mit dem Vertrag von Lissabon sogar noch zu.
Nach dem Vertrag von Lissabon hatte Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern 96 Sitze im europäischen Parlament, Malta mit 0,4 Millionen sechs Sitze. Ein deutscher Abgeordneter vertrat ca. 854.000 Einwohner, ein maltesischer Abgeordneter ca. 67.000 (dies Proportionalitätsfaktor von 12,8).
Schranke für Integration Das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass das Prinzip der souveränen Staatlichkeit eine Schranke für die Integrationsermächtigung ist. Das deutsche Grundgesetz erlaubt demnach eine Übertragung von Hoheitsrechten an die EU nur, wenn sichergestellt ist, dass die Mitgliedsstaaten souveräne Staaten bleiben und die EU ein Staatenverbund ist und nicht zu einem Bundesstaat wird.
Mehr Integration nur durch Volksentscheid Eine Integration, die diese Schwelle übersteigt, wäre nach dem Bundesverfassungsgericht nur zulässig auf der Basis einer verfassungsgebenden Volksentscheidung. Wie das Gericht festhält, müsse eine derartige
„Verfassungsneuschöpfung …von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“ werden.
Unterlaufen der Leitplanken Das sind klare verfassungsgerichtliche Leitplanken. Aber man muss auch die Gefahr sehen, dass durch eine Integrationspolitik der kleinen Schritte diese Leitplanken unterlaufen werden. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, hat in einer Podiumsdiskussion in Berlin 2011 (Veranstaltung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages am 17.11.2011) gewarnt:
Andreas Vosskuhle “Wir sollten nicht so weitermachen wie bisher, nicht so tun, als hätten wir viel Spielraum für weitere Integrationsschritte …
Wir kommen in einen Bereich, indem es kritisch wird… zu einer schleichenden Transformation in einen europäischen Bundesstaat …
Es kann sein, dass wir von einem europäischen Bundesstaat in der Ferne reden und nicht erkennen, dass wir in einem europäischen Bundesstaat leben.”
Man müsse aufpassen, nicht einen schleichenden, unerkannten Prozess in Gang zu setzen,
“den wir nicht kontrollieren können”.
Europa der Vielfalt
Einheit Europas – eine kulturelle Frage Dieses Ringen um die Integration und die Gestalt der politischen Einheit Europas ist eine zutiefst kulturelle Auseinandersetzung., Und sie darf darum auch nicht allein mit Blick auf wirtschaftliche, finanzielle, machtpolitische Vorteile geführt werden. An erster Stelle steht die Frage nach der kulturellen Identität Europas:
„Europa als Kultur ist durchaus nicht das gleiche wie Europa als Staat“
sagt Ortega in München – nämlich weitaus mehr, weitaus tiefer und größer.
Aber umgekehrt hat Europa als Staat nur dann Zukunft, wenn ein geeintes Europa in Europa als Kultur wurzelt und daraus seine Identität schöpft.
Etatismus und Transferunion Die Frage nach der Integration Europas muss deshalb in der Politik und der Öffentlichkeit offen und ausführlich diskutiert werden.
• Liegt die Zukunft Europas in einem Mehr an Zentralisierung, an europäischem Etatismus und großer zentralgesteuerter europäische Transferunion, welche die Unterschiede mehr oder weniger sanft von oben ausgleicht und nivelliert?
Vielfalt der Identitäten • Oder liegt die Zukunft Europas im Unterschied, im Wettstreit und Wettbewerb, in der Wahrung nationaler und regionaler Identitäten – bei allem Wandel und bei aller Annäherung, die die Globalisierung der Welt mit sich bringt?
• de Gaulle Wir haben in der Krise der letzten Jahre und nicht zuletzt in der politischen Diskussion der letzten Monate seit den griechischen Wahlen erfahren, wovor schon de Gaulle in seinen „Memoiren der Hoffnung“ warnte:
“Welch tiefer Illusion … muss man verfallen, um glauben zu können, europäische Nationen, deren jede ihre eigene Geographie, ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre besondere Tradition und Institution hat, könnten ihr Eigenleben abgeben und nur noch ein einziges Volk bilden?”
“Ur-Zweideutigkeit” De Gaulle warnte davor, ein künstliches Vaterland anzustreben, das nur dem Gehirn von Technokraten entsprang. Vor den Organen der Gemeinschaft in Brüssel warnte er wegen der “Ur-Zweideutigkeit der ganzen Institution“:
Abstimmung oder Verschmelzung “Heißt ihr Ziel gegenseitige Abstimmung des internationalen Vorgehens? Oder will sie völlige Verschmelzung der Volkswirtschaften und der jeweiligen Politik?”
Müßig zu sagen, dass ich, allen Wunschträumen abhold, die erste Konzeption vertrete. Aber auf der zweiten ruhen alle Illusionen der supranationalen Schule.“
Bestimmende Rolle der Nationalstaaten Die Nationalstaaten und die nationalen Parlamente werden nach meiner Überzeugung auch künftig die bestimmende Rolle in Europa spielen müssen. Das mag manchen deutschen Europafreunden nicht gefallen, die den deutschen Nationalstaat überwinden wollen, gewissermaßen als Buße für Auschwitz.
Aber mit ihrem Wunsch stehen sie in Europa ziemlich allein – wenn man einmal von der Bürokratie in Brüssel absieht.
Souveränität durch Integration Nehmen wir nur das Beispiel Polens, dessen Premierminister in Aachen zum Karlspreis seine bewegende Rede gehalten hat. Nur dank der europäischen Integration ist dieses Land heute wirklich souverän. Und Ähnliches gilt für alle Staaten Mittel- und Osteuropas, die ihre Freiheit durch und in Europa gefunden haben.
Die Menschen dieser Staaten, und vieler anderer in Europa, denken ihre Kultur mit dem Nationalstaat zusammen. Schafft man diesen ab, fürchten die Menschen, ihre Identität und gemeinsame Kultur zu verlieren.
Europa – Schweiz der Welt
Kein identitätsstiftendes Epos Wir haben in Europa kein großes identitätsstiftendes Epos, keine gemeinsame Erzählung, die die über 500 Millionen Menschen der Europäischen Union in einer gemeinsamen Geschichte, in gemeinsamen Emotionen, in einem gemeinsamen Gründungsmythos vereint.
Beispiel Schweiz Aber um gemeinschaftsstiftende Ideen zu erkennen, müssen wir uns nur in unserem europäischen Haus selbst umschauen.
Untergehen oder verschweizern In seinem Roman „Justiz“ bringt Friedrich Dürrenmatt das Schicksal unseres Globus auf eine ebenso gewagte wie verblüffende Formel:
„Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern.“
Hans-Peter Schneider Wie meint Dürrenmatt das? Dazu Hans-Peter Schneider, der große deutsche Staatsrechtslehrer und ehemalige Richter:
Vorbildliche Multikulturalität “Was die Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten und Völkern heraushebt, ist ihr Umgang mit Problemen der Verschiedenheit, ihre Suche nach Lösungen bei kulturellen, sprachlichen, religiösen oder ethnischen Konflikten, die von allen getragen werden können – kurz: die vorbildliche Bewältigung ihrer Multikulturalität …
Die sprachliche, kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt wird nicht als Bedrohung der eigenen Besonderheit, sondern als deren Ergänzung und Bereicherung empfunden…”
Wertegemeinschaft Das Schweizer Volk verstehe sich in erster Linie als eine
“Wertegemeinschaft, die sich den politischen Grundprinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats, des Föderalismus sowie nicht zuletzt dem Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte verpflichtet weiß …”
Direkte Demokratie In der Schweiz sind Verfahren direkter Demokratie zu einer Art Markenzeichen dieser Demokratie geworden und haben weit reichende Auswirkungen auf das gesamte Regierungssystem.
Freiheitsdrang und Freiheitsliebe Aufgrund historischer Erfahrungen und langer Fremdherrschaft gehören Freiheitsdrang und Freiheitsliebe zu den hervorstechenden Eigenschaften der Schweizer.
In der Verfassungswirklichkeit schlägt sich das darin nieder, dass in erster Linie die Gemeinden und die Kantone der Ort bürgerschaftlichen Engagements und der Ort persönlicher Beziehungen sind.
Die Gemeinden haben die Funktion einer Identität vermittelnden Einrichtung, und die Kantone spielen im föderalen Verfassungsgefüge eine weitaus größere Rolle als die Länder in Deutschland und wohl auch als die Gebietskörperschaften in den meisten anderen Bundesstaaten dieser Welt.
Europa als Eidgenossenschaft Europa – die Schweiz der Welt?
• Das Megalopolisch-Unsympathische der EU löste ein solcher Vorschlag jedenfalls sofort auf.
• Ebenso positiv wäre die Vorstellung von Europa als Eidgenossenschaft.
• Auch die Pflege von Vielsprachfähigkeit könnte Brüssel von Bern gut lernen.
• Ebenfalls die Achtung vor kantonaler Selbstbestimmung und staatsbürgerlichem Stolz.
• Vor allem der unbedingte Respekt vor dem Volkswillen und die Balance von globaler Einbindung und örtlicher Autarkie.
• Und dass es nicht auf die Größe eines Territoriums ankommt, sondern auf das, was man damit macht.
•
Vision der Staatlichkeit für Europa Aus diesem Beispiel eine Vision der Staatlichkeit für Europa zu schaffen, wäre eine Leistung, die der hohen Meinung gerecht wird, die Ortega y Gasset vor 62 Jahren in München, am Ende seines Vortrags, der europäischen Kultur zuerkannt hat:
“Ihr Ruhm und ihre Kraft bestehen darin, dass sie stets bereit ist, über das, was sie war, hinauszugreifen, immer über sich selbst hinauszuwachsen. Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung.”
Wagen wir also diesen Versuch!