DIE KULTUR DER FREIHEIT
Mit Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Felder pflegen wir gewöhnlich die jeweiligen Positionen nach Welt- und Menschenbilder distributiv wahrzunehmen. Die Grobrasterung erfolgt dabei meistens in konservativ, liberal und links. Mit sozio-politisch prädikativen Klischees dieser Art zielen wir auf subjektive wie kollektive Mentalität bzw. auf politische Konzepte. Intellektuell geht wie es scheint, gern mit links bzw. links-liberal zusammen und will damit vor allem als fortschrittlich, unabhängig und aufgeklärt wahrgenommen werden. Dabei wird der geistige Anspruch z.B. von Liberalität als Ausdruck der Freiheit auffallend häufig von bürgerlichen wie akademischen Mittel und Unterschichten via Libertinage und einer häufig indifferenten Einstellung zu den so genannten Kardinaltugenden (bzw. Grundwerten) nach dem Vorbild der achtundsechziger Revolte missverstanden. Die Werterelativität favorisiert leicht eine subjektive Wertepräferenz, die zu gesellschaftlichen Irritationen führen kann, wenn man sie universell reklamiert oder absolut setzt.
Max Scheler weist wohl zutreffend darauf hin, daß sich nicht die Werte (wie z.B. Leben, Freiheit, Menschenwürde) ändern, sondern das Wertefühlen des Menschen ändert sich manchmal als Tribut an den Zeitgeist oder aus dem Aspekt eines sich verändernden Welt- und Menschenbildes (in: Vom Umsturz der Werte). Scheler entwickelte eine Wertepyramide, die kollektive Verzugswerte als verbindlich herausarbeitet und subjektive, egoistische Wertpräferenzen (“das Leben ist der Werte höchster nicht”) in einem allgemeinen Wertekanon hintanstellt. Ob kollektiv respektierte Werte universelle Geltung erlangen können, das hängt von ihrer allgemeinen und dauerhaften Akzeptanz und dem konkreten Wertefühlen in der jeweiligen Gesellschaft bzw. Kultur ab. Am Beispiel von Liberalismus und Konservatismus kann gezeigt werden, welche Grundeinstellungen bei der Anerkennung einer Werterangordnung eine Rolle spielen.
Liberalität und Konservatismus
Bei einstweiligem Verzicht auf die Berücksichtigung der linken Position, des linken Weltbildes, sollen liberale und konservative Einstellungen und Werthaltungen in Absicht einer europolitischen Orientierung am Beispiel des herausragenden liberalen Denkers José Ortega y Gasset in ihren Grundaussagen und Grundphänomenen der Lebenswelt auf ihre gesellschaftliche und politische Gebrauchstüchtigkeit hin untersucht bzw. miteinander verglichen werden. Das hier verwendete Medium (Internet) gestattet allerdings bloß Schlaglichter auf das Universum relevanten Denkens. Der Nobelpreisträger und Vertreter des evolutionären Liberalismus, Friedrich August von Hayek, Bewunderer und in nicht geringem Maße kongenialer Epigon von Ortega , wird dabei als Ideengeber des modernen Liberalismus mit einigen zentralen Aussagen und Urteilssätzen seiner Abhandlung : Die Verfassung der Freiheit, näher in den Blick genommen.
Der Liberale übersteigt die konservative Haltung bzw. Einstellung, aber er kommt nicht ohne sie aus. Der eigentliche Konservatismus ist eine legitime, wahrscheinlich notwendige und sicherlich weit verbreitete gegnerische Einstellung zu starken Veränderungen, meint Hayek. Das Wesentliche des Liberalismus dagegen sei, dass er nicht stillstehen, sondern in anderer Richtung fortschreiten will. Ein Grundzug der konservativen Einstellung ist die Furcht vor Veränderungen, ängstliches Misstrauen gegen das Neue als solches, während der Standpunkt des Liberalen auf Mut und Zuversicht, auf der Bereitschaft beruht, auch nicht sicher kalkulierbaren Veränderungen ihren Lauf zu lassen.
Der Liberale vertraut auf die selbstregelnden Kräfte des Marktes. Wesenszug des Konservativen ist seine Vorliebe für Autorität. Er fühlt sich nur sicher und zufrieden, wenn er Veränderungen einer höheren Weisheit anvertraut sieht, die möglichst in Form einer Institution über den Verlauf wacht und alles in Ordnung hält. Der Konservative ist ein Mensch vom guten Schlage. Moralische Überzeugungen, die er oft absolut setzt, sind für ihn typisch. Er verteidigt eine bestimmte etablierte Rangordnung. Konservative neigen vor allem im Falle der Landwirtschaft zum Protektionismus. Sie nehmen häufig Zuflucht zum Mystizismus und vertrauen sich leicht dort, wo ihr Verstand versagt, übernatürlichen Erkenntnisquellen an.
In diesem Bereich unterscheidet sich der Liberale vom Konservativen dadurch, dass- so tief seine eigenen spirituellen Überzeugungen auch sein mögen- er sich nie für berechtigt betrachten wird, diese anderen Menschen aufzudrängen. Er ist überzeugt, dass das Ewige und das Zeitliche unterschiedliche Sphären sind, die auseinander gehalten werden sollten. Deshalb ist der Liberale weder im christlichen noch islamischen Fundamentalismus anzutreffen.
Fazit: Der Konservatismus erscheint zweifellos als nützliche praktische, aber auch theoretische Maxime, aber er bietet uns für sich allein keine leitenden Grundsätze, die langfristige Entwicklungen beeinflussen können, so Friedrich A. von Hayek. Ein liberaler Freiheitsbegriff vermag im Sinne eines unmittelbar staatsabhängig machenden Denkens keinen Halt zu finden. Jede Reglementierung durch die politische Macht reduziere die Freiheit. Nicht das gute selbstbestimmte Leben der Bürger im Gestaltungsrahmen eines politischen Herrschaftssystems sei die liberale Leitidee, sondern gerade die Abwesenheit staatlicher Beschränkungen, damit sich die Bürger insgesamt nach eigenen Plänen, sowohl mit allen Lebensrisiken dieser Ordnung, als auch mit ihren Erfolgschancen entwickeln können.
Liberalismus im Verständnis von José Ortega y Gasset
Vor hundert Jahren bezeichnete sich Ortega als „Theoretiker des Liberalismus“ (GW, Bd.V) und definiert die Bezugsebenen der liberalen Ausdrucksformen: „Der Liberalismus zeigt an, wohin der Weg führt, die liberale Partei sucht und verkündet den Weg.(…) Die jungen Leute begeistern und schlagen sich nur für Ideen, die so jung und schmuck sind, dass sie sich mit ihnen verloben können.“ Mit Verve appeliert Ortega an den politischen Liberalismus, aus den Grenzen des Opportunitätsprinzips auszubrechen und sich in höheren Formen soziopolitischer Verantwortung zu verorten.
„Und der Liberalismus, soll er nicht in einer vagen Toleranzdoktrin verschwimmen, muß sich dafür entscheiden, die Politik dem bloßen Nützlichkeitsbereich zu entreißen und seinen Kiel nach der Atlantis der moralischen Pflichten, der sozialen Tugenden zu richten. Ich glaube, es gibt auf Erden keine Mission, die so vollkommen und glorreich ist; (a.a.O) Mit diesem Beitrag von 1908 perhorresziert Ortega die Bezugsgrößen „Elite“ und „Masse“, die er etwa 20 Jahre danach in: Der Aufstand der Massen als ein Charakteristikum menschlicher Persönlichkeit näher definiert, das idealiter (und nicht etwa als soziales Kriterium) in allen sozialen Schichten in Erscheinung tritt, Werthaltungen zum Ausdruck bringt und eine Persönlichkeitsbeurteilung aus dem Aspekt von Humanität, Moralität und Sozialität gestattet.
„Liberalismus nenne ich jenes politische Denken, das die Verwirklichung des sittlichen Ideals dem voranstellt, was der Nutzen eines Teils der menschlichen Gesellschaft verlangt, sei dieser eine Kaste, eine Klasse oder eine Nation. Das konservative Leistungsprinzip dagegen will von idealen Forderungen nichts wissen, leugnet ihren ethischen Wert (…).“
Es ist ein bestimmter Menschentypus, den Ortega, ähnlich wie Churchill, als erklärter Verteidiger der „liberalen Demokratie“ für den repräsentativen Europäer der Zukunft in einem vereinten Europa von Nationalstaaten als dessen „Adel“, als ein moralisches Ideal und Persönlichkeitsmerkmal fordert. Politische, gesellschaftliche oder ökonomische Eliten seien „sittlichen Normen“ in einem „schöpferischen Leben mit streng hygienischer Lebensweise, mit hoher Zucht und fortwährenden Reizen, die das Gefühl der Würde anfeuern“ unterworfen.
Wer überhaupt strebt in der Finanzwelt nach Ordnung und Gesetz?
Offenbar waren die verantwortlichen Akteure des jüngsten Chaos der Weltfinanzkrise von grundlegend anderen Persönlichkeitsmerkmalen geprägt! Oswald Spengler nennt ( in: Der Untergang des Abendlandes) den Charaktertypus solcher dissozialen und häufig kriminell agierenden Leitfiguren im orbitalen Finanzwesen unserer jüngsten Vergangenheit „Tersistesnaturen“. Heute ist die Fassungslosigkeit in der politischen Realität weltweit über solche fast schon als metaphysisch generiert erscheinenden Prozesse groß. Der Ruf nach sittlichen Führungspersönlichkeiten erschallt wohl deshalb so laut, weil es sie nahezu nicht gibt. In, wie es scheint, hilfloser Ahnungslosigkeit von den faktischen Entitäten der menschlichen Natur bringt die Legislative Kontrollmechanismen ohne Sanktionsmechanismus auf den Weg und hofft damit auf bessere Zeiten. Besser wäre es, wie es scheint, Ortegas Postulate in soziopolitischer europäischer Absicht nach liberalem Geist ebenso zu bedenken wie das moralphilosophische Fazit von Arthur Schopenhauer, der menschliche Jagdschemata aus phylogenetischer Urzeit als egoistisch geprägte Strategie der biotischen Evolution in uns verortet hat. Gegen die ungezähmte Dominanz des Egoismus und der Triebe (z.B. die Macht. Slogan: Macht macht schlecht, absolute Macht mach absolut schlecht.) habe Moral keine Chance, es sei denn: „Befohlen muss sie sein“.
Hat der konkrete Gesetzgeber in Deutschland aktuell diese bewährte Einsicht vergessen oder wird den Leitfiguren der Finanz- und Wirtschaftswelt vielleicht die idealtypisch edle Gesinnung (heutige Wortwahl: Mentalität) der Klassik im Sinne von Johann Wolfgang von Goethe unterstellt: “ Nach seinen Sinnen leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz“ ?
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir?
Die geistigen Wurzeln der Bundesrepublik Deutschland scheinen im Einerlei von Überzeugungen, Weltbildern und Werthaltungen zu verschwimmen. Soll man die ideologische Depolarisierung bedauern, die im politischen wie gesellschaftlichen Diskurs eine Unbestimmbarkeit der Denkhorizonte nach sich zieht, so dass keiner mehr weiß, woran er ist? Früher hat es einmal einen Unterschied gemacht, ob jemand links, liberal oder konservativ war.
Die folgenschweren Aufgaben und Entscheidungen, die Problemlösungen der Politik erfordern offenbar weit mehr als einen ideologiefreien Sachverstand, vom Prinzip Verantwortung getragen. Eine Erneuerung des Humanismus nach dem Vorbild der von José Ortega y Gasset vermittelten Sichtweisen erscheint mir eine hierzu unabdingbare Bezugsgröße zu sein. Das Gesamtwohl der europäischen Gesellschaft im Fokus des kollektiven Interesses kann nicht ohne das Wohl des Menschen überhaupt in den Blick genommen werden, wenn zwischen Fortschritt und Scheitern zu wählen wäre.. Das Prinzip von l`ordre du coeur im Sinne von Blaise Pascal in Verschränkung mit Ortegas Prinzip de l`ordre d `esprit als eine Verpflichtung für Humanität, Gerechtigkeit und Wohlstand der Nationen kann vielleicht politisches Denken und Entscheiden auf einen Weg bringen, der alle berücksichtigungsfähigen Interessen zu harmonisieren vermag. Wir dürfen deshalb Ortegas Diktum zustimmen: „Ordnung ist kein Druck ,den man von außen her auf die Gesellschaft ausübt, Ordnung ist Gleichgewicht, das in ihrem Inneren hergestellt wird.“
Das konservative, liberale und linke Profil
Die Idee der konservativen Position:
Die Geschichte gibt den roten Faden vor. Institutionen(Recht, Sitte, Moral) schaffen positive Entlastung im anstrengenden Leben der Menschen.
Wirtschaftstheorie: Glaube und Vertrauen an/auf die Machbarkeit der sozialen Welt hat getrogen. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.
Die Idee der liberalen Position :
Freiheit bedarf des Schutzes. Pflicht des Staates ist es, einen dauerhaften Ordnungsrahmen zu schaffen, in dem freie Menschen ohne Furcht vor erdrückender wirtschaftlicher und politischer Macht leben können. Wirtschaftstheorie: Die Marktwirtschaft ist gut, solange es gelingt, den Wettbewerb zu sichern.
Die Idee der linken Position:
Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Allerdings können die Paradoxien der kapitalistischen Moderne wenigstens analysiert und verstanden werden. Theorie der Wirtschaft: Der Wohlfahrtstaat bezähmt den Kapitalismus und kompensiert die Entfremdung. Das geht zu Lasten der Revolution.
Konservative Überzeugung drückt sich im Slogan aus: Zukunft braucht Herkunft. Man kann keine Früchte von einem Baum erwarten, dem man die Wurzeln abschneidet. Das Konzept wurzelt vor allem im Münsteraner Kreis mit Bezugsgrößen wie Ritter, Marquard, Lübbe, Spaemann.
Liberale Überzeugungen jüngerer Zeit entstammen der Denkfabrik der Freiburger Liberalen mit dem nach Walter Eucken benannten Institut. Mit einer Forderung nach einem starken Staat unterschied sich die Freiburger Schule vom klassischen Liberalismus. Repräsentanten und Propagandisten waren auch Ludwig Erhard und Böhm. Einer der Kerngedanken war die privatwirtschaftlich organisierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Freiheit und Markwirtschaft zu sichern vermag. Daher die Bezeichnung Ordoliberalismus.
Die Linken gründen ihre Sichtweisen und Grundüberzeugungen auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, deren herausragender Vertreter heute Jürgen Habermas ist. Linke haben mit den Liberalen die Skepsis, ja die Aversion gegen die Kompensation des sozialstaatlichen Ausgleichs gemeinsam. Grund: Es ist der Wohlfahrtsstaat, der erst die Ellenbogengesellschaft hervorbringt, die er eigentlich bezähmen wollte.
Wir sehen: Die Ideen der jüngeren deutschen Politik kommen bei näherer Betrachtung aus der Provinz, aus Münster, Freiburg bzw. Frankfurt. Von dort prägten im Nachkriegsdeutschland Liberale, Linke und Konservative die intellektuelle Landkarte. Sie haben sich allesamt mit Kapitalismus und Marktwirtschaft abgefunden und jeweils jeder auf seine Weise. Und heute? Die Ideen, Gedanken und gesellschaftlichen wie politischen Konzepte aus erwähnten Schulen erscheinen uns wie Fragmente versunkenen Kulturgutes. Alles schwirrt ziemlich ungeordnet durch die Köpfe der Menschen und kaum noch jemand weiß genau, wohin es gehört. Ein Wunder, dass die Politiker quer durch die Parteien mal links, mal rechts, mal liberal argumentieren, ganz wie es ihnen gerade nützlich erscheint? Das Mixtum compositum von Grundüberzeugungen aber darf uns im Innersten nicht irritieren. Der Blick auf die Grundfragen nach unserer Existenz in der Welt darf nicht verschleiert werden, wenn wir mit Immanuel Kant (was liegt den Dingen voraus und zu Grunde?) danach streben zu wissen:
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir?
Wer sich in den beschriebenen Horizonten als Denker quer durch die „Lager“ gefällt und die Tiefenschärfe von Logik und Wahrheit vernachlässigt, den zählt José Ortega y Gasset zur Masse. Er macht so unausgesprochen Kants Aufklärungspostulat zum Bewertungsmaßstab:
„Wer sich angesichts irgend eines Problems mit den Gedanken zufrieden gibt, die er ohne weiteres in seinem Kopf vorfindet, gehört intellektuell zur Masse. Elite dagegen ist derjenige, der gering schätzt, was ihm mühelos zufällt, und nur seiner würdig erachtet, was über ihm ist und mit einem neuen Ansprung erreicht werden muß.“(La rebellión de las massas, 1930, GW- Bd. III).
Die Kultur der Freiheit als Lebensform
Die europäisch-abendländische Kultur, mit „westliche Kultur“ im neueren Sprachgebrauch bezeichnet, weil sie als Wertegemeinschaft über Europa hinaus Amerika und heute auch Japan, Australien, Israel mit einschließt, ist Leitkultur sui generis in genannten Regionen wie der Islam beispielsweise in anderen Teilen der Erde die Leitkultur bildet. Leitkultur bedeutet nach traditionellem und allgemeinen Verständnis jene Kultur, die in einem Kulturraum massgeblich ist und allgemein anerkannt wird. An ihr richten sich in aller Regel das konkrete Recht, die Judikatur, politische und soziale Grundkonstituentien des Denkens, meistens auch das religiöse Bekenntnis, das Moralempfinden der Gesellschaft, ihre Überzeugungen und ihr Wertekanon aus. Sie ist Bedingungs- und Bestimmungselement der meisten Lebensformen der je konkreten Gesellschaft eines Kulturraumes.
Die kulturpessimistische Rede Oswald Spenglers vom Untergang der abendländischen Leitkultur findet offenbar immer mehr Relevanz. Dies offenbar vor allem auf dem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Feld in Deutschland. Ist in den TV-Medien, im politischen oder allgemein öffentlichen Diskurs das Wort Leitkultur zu vernehmen, scheinen die Gesichtszüge der Diskursteilnehmer zu veröden.Die Akteure sind schleunigst bemüht, sich ob der unvorsichtigen Lautäußerung eines ihrer Diskutanten beschämt zu zeigen. Schnell kommentiert man relativierend bezüglich der Konnotationen einen zentralen, gut operationalisierten Begriff und greift zu Metaphern, um bloß nicht mit der Leitkulturvokabel in vielleicht diskriminieren wollender Absicht in den Blick genommen zu werden. Wie um Nachsicht bittend wird oft erklärt, gemeint sei ja wohl unser Grundgesetz, also näher hin die Werte und Grundüberzeugungen, von denen keiner sodann konkret sagt, welche er meint, die Menschenwürde, die Freiheit und andere Bezugsgrößen werden zur Hilfe gerufen. Regionale oder gruppenspezifische Begleitphänomene, Schattierungen „Diversifizierungen“ oder „Tochtergebilde“ unserer Leitkultur, die als Subkulturen bisher ohne weiteres treffend so bezeichnet wurden, weil sie zur Leitkultur idealiter und praktisch in einem interdependenten Beziehungssystem stehen , werden häufig genug mit reichlich dümmlichen Bezeichnungen versehen, um bloß den Begriff Subkultur zu vermeiden. Woher stammt diese zwergenhafte Ängstlichkeit, dieses Unvermögen, sich zur eigenen Kultur zu bekennen und sich mit ihr als Leitkultur eines großen Kulturraumes zu identifizieren? Ein typisch deutsches Phänomen der Unsicherheit und Ängstlichkeit in der eigenen Sache eigener Grundwerte und Überzeugungen?
Der Westen als Kulturraum ist keine geographische Verortung, sondern eine Sammelbezeichnung für Nationen und Staaten, die ein vergleichbares Wertefundament besitzen auf dem sich ihr einander ähnlicher gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß vollzieht. Das westliche Wertesystem gründet sich auf der Prämisse individueller Freiheit und Organisation der Gesellschaft linear zur Eigenlogik formalisierter Sozialsysteme wie Recht und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Prägend für das Menschenbild des Westens ist der die Neuzeit geistig begründende Humanismus im Ausdruck der oberitalienischen Renaissance. Dieser Grundüberzeugung gemäß wurde/wird der Mensch als Gottes Ebenbild sozusagen höheren Weihen zugeführt, wobei jedes Individuum in den exklusiven Rang des Schöpfers, zumindest seines eigenen Schicksals, aber damit auch der Welt überhaupt erhoben wird. Mit dem Humanismus dieser Gestalt wurde die christliche Offenbarung für unsere Rechtsordnung (Verfassung) konstitutiv, die jedem Bürger die Menschenwürde deshalb attribuiert, weil er Mensch ist, weil er zur Spezies Homo sapiens sapiens zählt und nicht etwa, weil er sich als würdig erweist. Der Mensch avancierte so zu des Menschen höchster Instanz. Dieses nahezu absolut gesetzte Menschenbild wurde zum Grundstein der westlichen Kultur heutiger Ausprägung. Alle gesellschaftlichen Ordnungen und Institutionen verloren mit der “modernen” humanistischen Grundüberzeugung ihren früheren Absolutheitsanspruch. Nahezu alle normativen Ableitungen unserer sozialen und Rechtsordnung gehen auf diesen Quellcode zurück.
Anders Immanuel Kant: Nur Vernunftwesen haben einen inneren Wert und eine Würde, Menschenwürde eben. Mit dieser Perspektive bekam bekanntlich der australische Philosoph Peter Singer in Deutschland lebensbedrohliche Probleme. Christlich-fundamentalistische Gruppen standen/stehen im Verdacht, einen Anschlag auf das Leben des Philosophen organisiert zu haben, als er sich unterwegs nach Freiburg befand, um dort einen Vortrag darzubieten, in dem auch Menschen in den Blick genommen werden sollten, deren Leben unterhalb der biotisch-psychischen Existenz höherer Tiere verläuft. Peter Singer wurde gewart und brach seine Reise ab.
Individuelle und kollektive Lebensform
Die Kultur der Freiheit als Lebensform nimmt Ortega aus dem Aspekt des Liberalismus näher in den Blick:
„Der Liberalismus ist das politische Rechtsprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt (…) eine Stelle für jene frei lässt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität.“(GW-Bd. III ,La rebellión….)
Ortega betrachtet ähnlich wie Kant den Menschen zur Bildung in kultureller Absicht und zur Ausbildung der in ihm angelegten Eigenschaften verpflichtet. Ein Mensch dieser Prägung „sieht die Wege des Lebens in voller Klarheit vor sich.“ Ortega subsumiert Bildung und Aufklärung unter den Kulturbegriff und rechnet die Kultur zum Wesen, zum Dasein des Menschen (vgl. Plessners Fazit in den Stufen: Die Natur der Natur des Menschen besteht in der existenzialen Kultur-Natur-Verschränkung). Kultur ist demgemäß das herausragende Merkmal menschlicher Lebensform. Der Durchschnittsmensch von heute aber lebe im Zustand „schrecklicher Unkultur“. Deshalb habe es „noch nie so viele verfälschte und verlogene Existenzen gegeben.“
Kulturgeformtes Leben zeichnet sich durch Orientierung an Normen aus: „(…),dass es keine Kultur gibt, wenn es keine Normen gibt, auf die wir und unsere Gegner zurückgreifen können. Es gibt keine Kultur, wenn es keine Prinzipien des bürgerlichen Rechtes gibt. Es gibt keine Kultur, wenn es keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten der Erkenntnis gibt. (…) Der Grad der Kultur bemisst sich nach der Genauigkeit der Normen.“ Nur eine straffe große Normenklarheit und Normengenauigkeit ordne und durchdringe das Leben bis ins Detail der „Ausübung aller Lebensfunktionen“.
Zur Gefahr einer Kluft zwischen Normenorientierung und Versinken in die Tierheit
Das Privatleben des Individuums bildet ebenso wie das kollektive, das gesellschaftliche Leben nur unter der Prämisse des Vorhandenseins und der Anerkennung klarer Normen kulturelles Leben bzw. kultivierte Lebensformen aus. Erziehung ist für Ortega eine der hierzu unabdingbaren Voraussetzungen. Er wendet sich gegen die Intellektuellen ohne Intelligenz, räumt wie Johann Wolfgang von Goethe der Phantasie den Rang eines selbständigen Sinnes ein und betont wie sein Freund Max Scheler, auf den er sich bezieht, die Ich-Sphäre als das Aktionszentrum jeglicher Lebensform. Das Leben und das Ich sind korrespondierende Elemente der vitalen Vernunft. Sie ist es, die allem menschlichen Tun dazu verhilft, gegen die ihm feindliche Sphäre der Umwelt (Ortega nennt diese „Lebensumstände“) sinnorientiertes Handeln zu setzen. Das Ich ist eine Person, stellt Ortega versus Scheler fest und den Körper nennt er „mein Kumpel“. Auf der Suche nach einem klaren Personbegriff allerdings bleibt Ortega vage. Für die Lebensform, insoweit der Mensch aktiv ist, handelt, lebt, liebt, leidet, leistet, sich ängstigt usw. kann Ortegas zentrale Aussage: „Ich bin ich und meine Lebensumstände“ herangezogen werden. Es ist genau jene Definition, die in der späteren Motivationspsychologie mit anderen Worten wiederkehrt, auf das Anlage-Umwelt-Schema abzielt und das Antriebsschema bzw. Motivbündel des menschlichen Ichs zum Ausdruck bringt: „ Motivation ist Person – Situations - Interaktion“ (Heinz Heckhausen). Das Leben ist also ausgedrückt durch die Verschränkung von Ich und Welt. Das Sein des Menschen aber besteht nicht allein in dieser Verschränkung, sondern in einem Prozesscharakter dieses Phänomens, das nach Vorstellung Ortegas, die er von Helmuth Plessner übernommen hat (Die Stufen, 1928), den Menschen als grenzrealisierendes Wesen in den Blick nimmt, als Wesen der exzentrischen Positionalität. Menschliche Lebensform, im Eigentlichen Kultur, ist also immer ein grenzrealisierender Prozeß, bei dem die Grenze überschritten wird, die für tierische Existenz geradezu konstitutiv ist. Freiheit in den Grenzen der Determiniertheit menschlicher Natur: Ein vorrangiges Thema der Zukunft!
Es ist noch nicht lange her, da zeigten Erziehungsideale die Tendenz, den Menschen weit über seine animalische, seine triebhafte Existenz hinaus zu entwickeln (vgl. humanistische Erziehungsideale), Egoismen zu unterdrücken, eine Universalitas der Bildung anzustreben, Interessen aus dem Aspekt von Sozialität und Moralität zu verfolgen. Diesen Charakter des gebildeten und freien Menschen hat Goethe mit dem Begriff der sittlichen Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht. Häufig hat der Humanismus hierzu den Leitfaden hergegeben. Heute bemühen sich Politik und Kultusministerkonferenzen darum, den Menschen in seinem Streben nach Erfahrung erxorbitanter Sinnlichkeit nicht allzu tief in seiner Tierheit versinken zu lassen. Dabei könnte es sich als nachteilig erweisen, daß Bildungspolitik absichtsvoll die Begriffe Bildung und Wissen miteinander amalgamiert, so daß bei Bürgern, die sich nicht zulänglich mit der Materie befassen können, Bildung suggestiv angenommen wird, wo die offizielle Politik nur Wissen meint. Man kann vor allem bei Jugendlichen, in der öffentlichen Wahrnehmung des Verhaltens, an ihrer Sprache, ihren Wünschen und Zielen, an ihren Wertschätzungen und Präferenzen nicht selten ablesen, daß eine Tendenz zum vorkulturellen Zustand einen eigenartigen Reiz gewinnt. Eine Ellenbogengesellschaft prägt Lebensformen aus, die Macht vor Moral geradezu herausfordern. Geistige Verwahrlosung und Rohigkeit der Gefühle treten öffentlich wie ein Menetekel in Erscheinung: Kultivierung und Zivilisierung der Triebe scheinen oft wie brüchiges Eis über dem Vulkan triebgeleiteter Interessen zu liegen. Das gesellschaftliche Niveau droht hinter die bewährten und menschtypischen universellen Fragen und ihre Antworten, die überhaupt erst die Gemeinschaft in kultureller Gestalt prägen, zurück zu fallen: Woher kommt der Mensch, wo geht er hin? Wie halten wir es mit dem Tod? Was ist der Lebenssinn im Ausdruck eines guten und richtigen Lebens? Gibt es metaphysische Bezugsgrößen, unerkennbare Mächte, gibt es also Transzendentales oder nur Diesseitiges?Gibt es also nur Natur , über der Kultur bloß als Firnis liegt? Gibt es unentbehrliche Regeln des Zusammenlebens? Wann verdient ein Mensch Achtung und wann bzw. unter welchen Bedingungen soziale Ächtung?
W.von Tahlheim